Samstag, 24. Dezember 2011

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Autosuggestion

Christina fühlte sich seltsam, als wäre sie inwendig hohl und ihr Körper nur Haut und Knochen, eine aufgeblasene Schweinsblase, die man mit einer feinen Nadel zum Platzen bringen konnte. Hinzu kam ein unerklärliches Kribbeln, fast so, als krabbelten Ameisen unter ihrer Haut, manchmal auch ein Pochen in einzelnen Körperteilen, besonders in den Gliedmaßen, das mit unangenehmen und ebenso unerklärlichen Stichen einherging und einer Hitze, die von den Füßen zum Kopf hochstieg und vom Kopf zu den Füßen ging. Legte man eine Hand auf ihre Stirn, fühlte man aber nichts Besonderes. Man sah auch nichts. So angestrengt man sie auch betrachtete. Daher musste sie weiter arbeiten, selbst wenn sie die einfachste Verrichtungen wie Spinnen oder Nähen nicht mehr fertig brachte.
Ihr Kopf war von allen Gedanken und auch Erinnerungen entleert. Mitunter wusste sie nicht mehr wer sie war und was sie tat, erlebte alles wie unter einem Schleier, und wenn sie die Dinge ganz unverhüllt schaute, so erfasste sie dieselben höchst selten so, wie sie waren oder wie sie sein mussten. Folglich war es ihr auch nicht mehr erinnerlich, wie und wann das Übel begonnen hatte.
Man hatte sie auf dem Boden im Stalldung liegend gefunden. Daran konnte sie sich noch gut erinnern, nicht aber wer sie gefunden hatte. Vielleicht war es der Knecht gewesen? Vielleicht aber auch der Wirt?
Mit großer Beschwerde war sie aufgestanden - man hatte ihr dabei geholfen – und hatte ein solches Rumpelwerk, ein Rumoren in ihrem Bauch verspürt, dass sie gleich darauf in die Wirtsstube gerannt war, um eine halbe Flasche Branntwein zu trinken, durch den sie beinahe endgültig von aller Vernunft gekommen wäre, wenn sie sich vorher nicht, aus lauter Übelkeit, die ihr der Alkohol bereitet hatte, den Finger in den Hals gesteckt hätte.
Am Anfang war nicht mehr als ein wenig Wasser herausgekommen, das nach Galle und vergorener Milch gerochen hatte. Doch nach langem Quälen hatte sie etwas hervorgewürgt, das einem fingerlangen Wurm oder Reste eines Wurms nicht unähnlich war. So genau hatte sie es nicht erkennen können, denn es war sofort im Abtritt verschwunden.
Entsetzt war sie zur Kellerin, dem Kräuterweiblein, in die Himmelsgasse gestürzt und hatte ihr mit dünner Stimme ihr Leid geklagt.
„Was ich sage, ist wahr“, beteuerte sie ihr unter Tränen. „Ich erfinde niemals Geschichten. Ich verbürge mich bei meiner Ehre, für das, was ich erlebt habe.“
Die kleine, verwachsene Gestalt stand mitten in der Küche auf einen Stecken gestützt, an dem noch die Rinde haftete, und hörte ihr regungslos bis zum Ende der Rede zu. Daraufhin legte sie ihren Stock auf einen Stuhl, ganz vorsichtig, als ob es von Bedeutung wäre, ging zum Wasserbottich, der vor der Türschwelle stand, beugte ihr schlimm verkrüppeltes Rückgrat tief nach unten und tauchte die Hände ins Wasser, etwa drei Vaterunser lang.
„Es erscheint vielen beinahe wie ein Wunder“, sagte die Alte schließlich und richtete sich auf, „dass die Würmer, vor allem, weil sie lang und rund sind, emporsteigen und durch Mund und Nase herauskommen.“ Sie spreizte ihre noch feuchten Hände und versprengte das Wasser mit mehreren schüttelnden Bewegungen wie mit einem Weihwasserwedel in den Raum. „Aber das ist nun einmal so, wenn derjenige schlecht isst oder schlecht wohnt, was eine gewisse Verstimmung im Magen und in den Eingeweiden hervorruft, die geeignet ist, die Würmer zu reizen, die ansonsten still und ruhig sind.“ Sie machte eine Pause, während sie sich die Hände an ihrem Fürtuch abwischte. „Isst du denn schlecht?“
Christina überlegte. Noch nicht einmal das wusste sie genau. Ihr Kopf war schwach. Sie konnte einfach nichts mehr zusammenbringen. Schließlich antwortete sie, wortkarg, was gar nicht ihre Art war: „Ich kann nichts Rechtes hinunterbringen.“
Die Kellerin sah sie wieder lange an, ohne etwas zu sagen, und nickte endlich bedächtig mit dem Kopf. „Das ist es“, sagte sie leise wie zu sich selbst und trottete in die Küchenmitte zu dem Stuhl, auf dem der Stecken lag. „Wenn der Mensch lange Zeit nüchtern gewesen ist, oder nahezu nüchtern, dann nagen die Würmer am Magen, denn sie sehnen sich nach Nahrung. Und weil sie nach einer gewissen Zeit nichts bekommen, um sich zu ernähren und am Leben zu erhalten, steigen sie empor und suchen nach Speise, bis sie schließlich im Rachengang der Kehle ankommen.“ Während sie sprach, hielt sie den Stecken in der Hand, um damit wie zur Verdeutlichung den aufwärts führenden Weg der kleinen hungrigen Schmarotzer mit einer zittrigen, aber gewandten Bewegung nachzuzeichnen, angefangen an Christinas Unterleib bis hin zu ihrer Kehle.
Leicht nur berührte sie Christinas Brust, dass es dieser ganz anders wurde, und in diesem Moment bemerkte sie auch, dass etwas Lebendiges unter ihrer Herzgrube kniepte und fraß. Sie stellte sich vor, wie all diese winzigen Würmer – Wie viele mochten es denn sein? –  sie zum Gegenstand ausgesuchter bübischer Unternehmungen machten und in ihrem Kopf und ihren Gliedern die unsäglichen Empfindungen verursachten, welche sie schon seit Tagen peinigten.
„Aus einem gewissen Scharfsinn und einer natürlichen Neigung heraus“, erklärte die Kellerin weiter und setzte den Stecken auf den Boden, „spüren die Würmer, dass die Speise auf diesem Weg in den Magen kommt. Und weil die Nase auch ein Kanal ist, der in die Kehle einmündet, gehen sie auch hierin und kommen vermittels des Niesens heraus oder werden mit den Fingern herausgeholt. - Ich habe oftmals gesehen, wie dies auch bei gesunden Menschen vorkommt. Du brauchst dich also nicht zu sorgen. Brauchst nur zu essen. So werden die Würmer wieder in die Eingeweide zurückgedrängt.“ Sie kramte in ihrer Schürze ein kleinen Beutel hervor und streckte ihn Christina entgegen. „Zur Sicherheit nimm das und bereite einen Sud daraus. Das wird dir helfen. Es sei denn“, sie unterbrach sich plötzlich und tat ganz geschäftig. „Ich muss jetzt ...“
„Was?“, fragte Christina.
„Die Kräuter werden dir schon helfen.“
„Was?“, wiederholte Christina leicht gereizt.
„Es sei denn jemand hat dich vergiftet!“
Christina lachte, nahm den Beutel und drückte der Alten etwas Geld in die Hand. Wer sollte sie denn vergiften wollen! Wenn schon nicht reich an Gut, so war sie doch reich an Seele. Sie war allen Menschen hold, tat ihnen gut und dachte stets nur an das Beste!
Sie lachte auch noch auf dem Nachhauswege. Womöglich war das ein gutes Mittel gegen die Würmer?
Aber als sie nach Haus gekommen war und sich im Spiegel betrachtet hatte, war ihr das Lachen vergangen. Denn ihr Gesicht war trotz der sommerlichen Bräune bleich, ihre Augen funkelten stärker als zuvor, und ihr Mund sah aus wie ein schmaler Strich.
Vielleicht hatte man sie doch vergiftetet?
Als sie zu Bett gegangen war -  früher als sonst - , dachte sie immer noch daran, obwohl es ihr etwas besser ging.
Über der Erinnerung an den ausweichenden Blick der Alten war sie schließlich eingeschlafen, um nachts zur zwölften Stunden durch ein überlautes Poltergeräusch aus dem Schlaf geschreckt zu werden. Es war ihr, als würden Fässer die Treppe hinuntergeworfen. Sie wollte schon ansetzen, um sich lautstark über das nächtliche Treiben zu beklagen, als ein schreckliches Sausen und Pfeifen begann, als flögen Nüsse aus den Schubladen an die Wand. Flugs zog sie die Decke über den Kopf, damit sie sich durch die hölzernen Früchte zu allem Übel nicht auch noch äußerlich verdarb, und schickte eins, zwei Ave Mariae gen Himmel. Denn der nächtliche Beschuss kam ihr fürwahr nicht ganz geheuer vor.
Sie lag noch im Gebet, als das Gepolter und Getöse mit einem Schlag verstummte. Darauf folgte Stille, nichts als Stille. Kein Knistern und Knacken, kein Rascheln und Rollen, kein Wispern und Pispern, kein Schnarchen und Schnaufen. Nur Stille. Es war so, als ob die Vögel des Himmels bei helllichtem Tage ganz plötzlich und unerwartet verstummt wären. Noch nicht einmal in ihrer Herzgrube kniepte und fraß es.
Ja, war sie vielleicht schon tot?
Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett, um sich selbst zu vergewissern und vor allem aller Welt zu bekunden, dass sie noch nicht verschieden sei, und stürzte zur Tür, ohne auf die Haselnüsse zu achten, die auf dem Kammerboden überall herumkullern mussten. Dabei bemerkte sie sehr wohl, dass dort rein gar nichts lag, auf dem sie hätte ausrutschen können.
Sie begann die Treppe hinunterzuschleichen. Jede Stufe verriet sie durch ihr Knarren. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Sie bildete sich ein, das Geräusch von neuem zu hören, war sich aber nicht sicher. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Nur rauschende Stille und ihr pochendes Herz. Wieder schlich sie sich drei Stufen hinunter. Wenn doch nur der Wirt da wäre und...  Sie war noch vier Stufen vom unteren Treppenabsatz entfernt. Unten angekommen, war nichts zu sehen, was die Ursache für den nächtlichen Lärm hätte sein können.
Es war wie im Traum.
Vielleicht träumte sie ja auch?
Niemand wuchtete Fässer durch das Haus. Es war wie allezeit in der Nacht, wenn sie auf den Nachstuhl musste. Sie hatte lediglich das Gefühl, dass etwas um sie herum war, das sie zwar nicht sah, wohl aber gehört hatte, wenn auch nur kurz, und welchem sie ihre sämtlichen körperlichen Beschwerden und alle Anfechtungen des Gemüts zuschreiben konnte.
Als sie die Treppen wieder hinaufstieg, glaubte sie hinter sich, ein huschendes Geräusch zu hören wie von Ratten, ein Rascheln. Sie meinte eine Bewegung wahrgenommen zu haben, doch als sie sich umwandte, war alles still.
Es war sicher ein Luftzug, dachte sie und stieg wieder zurück in ihr noch warmes Bett.
Sie war ganz weit weg und zitterte und wartete darauf, dass sie wieder zum rechten Gebrauch ihrer Gemütskräfte gelangte, dass ihr Kopf stark wurde.
Das Böse bemächtigt sich schnell eines Menschen, dachte sie.
Sie schloss die Augen und ließ sich treiben. Es war kein eigentlicher Schlaf, sondern eher ein leichtes Nickerchen. Sie wusste, sie lag auf dem Bett, und versuchte zu ergründen, was gerade mit ihr geschah. Die Gedanken verhäkelten sich allmählich in ihrem Hirn.
Vielleicht hatte man sie doch vergiftet?
Nicht mit einem Trank, einer Salbe oder einem Pulver, sondern mit dem bloßen Wort...
Denn das Wort besaß eine große Kraft, wenn es in starkem Verlangen und in der richtigen Absicht gesprochen wurde. Alle Wunder der Welt geschahen durch das Wort und auch alles Übel war durch das Wort in die Welt gekommen.
Sie dachte an die Wunder des Herrn, von denen die Pfaffen erzählten. Sie dachte auch an die Heimsuchungen des Teufels. Sie dachte aber auch an die unterschiedlichsten Kräuter, die ihre heilende Wirkung nicht von Natur aus entfalten konnten, sondern nur dann, wenn bestimmte geheime uralte Riten eingehalten wurden; und dazu gehörten auch formelhaft ausgesprochenen Worte, - auch, wenn man sie meist nicht verstand. Sie dachte an Gebete, Wünsche und Bitten, die in Erfüllung gingen, auch an Zaubersprüche und – formeln.
Alles Worte! Man sah zwar nicht, wie sie ihre Kraft entfalteten, aber man konnte sie hören. Das lautlose Lesen half da wenig. Das galt auch für Flüche, durch welche man Unheil auf einen anderen oder auf dessen Habe oder auch auf sich selbst herabwünschte. Ein im Augenblick des Todes ausgesprochener Fluch erfüllte sich auf wunderbare Weise ...
Die Alte hatte Recht!
Christina pochte das Herz in der Brust. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie war auf der richtigen Fährte.
Noch spürte sie die Schwäche des Verstandes, doch die verlorenen Geisteskräfte kehrten allmählich zurück. Und je länger sie über die Macht der Worte nachdachte, um so gewisser wurde sie sich, dass man unnatürliche Dinge mit ihr trieb, die durch Worte hervorgerufen worden waren, dass man sie verflucht hatte.
Eigentlich hatte sie es ja schon immer gewusst!
Sie wusste, dass die Flüche eines betrogenen Mädchens ebenso sicher in Erfüllung gingen, wie die einer Schwangern.
Das hatte sie selbst erlebt: damals, als die schwangere Hauberin den Teich neben der Mühle verflucht hatte. Daraufhin hatte kein Mensch mehr einen Fisch daraus zu essen bekommen.
Plötzlich standen die Worten über ihr, die der schwangeren und übelbeleumdeten Anna einfach so in einer Art Wut entwischt waren, und die sie, Christina,  aus ihrer Erinnerung geschoben hatte: „Du sollst keine guten und gesunden Tage mehr haben, sollst blind, lahm und krumm werden. Das fallende Übel soll über dich kommen!“
Christina stürzte wieder aus dem Bett und begann ihre Kammer zu durchwühlen. Sie wusste selbst nicht, nach was sie suchte. Es musste etwas sein, was nicht ihr gehörte, etwas, was nicht ohne Mühe zu finden war und was demnach nicht einfach so unter ihrem Bett oder in der Truhe lag, sondern etwas, was sich verborgen hielt. Etwa einer kleiner eitergelber Kieselstein, der dafür sorgte, dass es unter ihrer Haut kribbelte und krabbelte, solange er sich in ihrer Kammer befand. Oder ein kleines Säckchen, das sehr viele Dinge enthielt, wie Körner als auch Samen, in das Knochen, Haare, Sauborsten, Kalk, Wachs und anderer Unflat eingenäht war, der Raserei und Sinnesverwirrung bewirkte, dass sie unsinnig im Haupt wurde.
Sie riss das Kissen auf, zertrennte ihre Kleidung, selbst die feinste Naht. Doch sie fand nichts. Keine wunderlichen Samen, keine Knollen, die sie nicht kannte, keine Rossnägel, kein farbiges Pulver, keine Bänder, Netze und Federn, die ihr fremd vorkamen, keine Häute und kein wächsernes Männchen, wodurch sie gequält werden sollte, auch keine Krötenknochen und die feinen Knochen eines ungetauften Kindes.
Aber was braucht ein Fluch anders als Hass, dachte sie, als sie vor den zerfetzten Kleidungsstücken stand, die jetzt nichts anderes mehr als Scheuerlappen waren. Hass und Fluch gehörten zusammen wie Liebe und Versöhnung. Wenn sie sich recht besann, hatte sie den Duft von Annas Hass geradezu gespürt. 

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Spuren

Bereitwillig folgte ich ihm und machte es mir ein zweites Mal im Sessel bequem.
»Erinnern geschieht gewöhnlich unbewusst«, begann er, indem er sich mir gegenüber setzte. »Es erfordert Mühe, sich Erinnertes bewusst zu machen, es der Gefahr des Vergessens zu entreißen.« Er streckte mir das Weinglas entgegen. »Ich habe Ihnen angesehen, dass Sie mit meiner Gläsersammlung nichts anzufangen wissen. - Sehen Sie hier den roten Lippenstiftabdruck.«
Ich nickte.
»Spuren wollen gelesen werden. Der Entdecker solcher Spuren muss sie so deuten, dass eine Geschichte entsteht, deren einfachste Formulierung etwa so lauten könnte: Hieraus hat jemand getrunken.« Er lächelte und hob viel sagend die Augenbrauen. »Die ersten Geschichtenerzähler müssen wohl Jäger gewesen sein. Weil sie als einzige fähig waren, in den stummen Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen.« 

Freitag, 16. Dezember 2011

Überzeugungen


Während die Sicherheitskräfte den Tatort absicherten, sah sie immer noch unter sich und betrachtete den Fußraum im Auto. »Ist er endlich tot?«, fragte sie den Polizisten, der ihr die Handschellen angelegt hatte und jetzt neben ihr Platz nahm.

Er nickte.
Voller Mühe hob sie das Kinn und drehte den Kopf zur Seite. Das Gesicht war weiß, dass es fast leuchtet. Ihre Miene wirkte verkniffen und dennoch siegesbewusst. Sie wollte sich nicht mehr verstecken, wollte, dass jeder sie sah.
»Gut«, sagte sie. Sie lehnte sich halb aus dem Fenster und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass die Kameras eingeschaltet und auf sie gerichtet waren. Dann beugte sie sich noch weiter hinaus und sagte: »Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.«

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Anziehungskraft


Er heftete seine Lippen auf ihren Mund, erst nur die Oberlippe, dann auch die Unterlippe, schließlich küsste er sie richtig, sein weit geöffneter Mund auf ihrem. Als sich ihre Zungen berührten, stieg eine Woge der Übelkeit in ihr hoch. Der Ekel überkam sie zuweilen, wo sie abwehrte, was sie innerlich faszinierte. Für sie gab es keine Anziehungskraft ohne Abstoßung. Es waren zwei Seiten derselben Medaille. Das Gerede von der reinen Abscheu war allzu oft nichts anderes als Heuchelei. Und gerade deswegen riss sie sich von ihm los und fing an zu laufen. Sie rannte, aber nicht um schneller weg zu kommen, denn dafür blieb ihr genügend Zeit, das wusste sie, sondern damit sie sich ihn wie all die anderen Kerle möglichst bald aus dem Kopf schlagen konnte. 

Dienstag, 13. Dezember 2011

Dummheit

Plötzlich erhob er sich, furchtbar bleich und mit dem Ausdruck einer grauenhaften, zur Verzweiflung gesteigerten Wut auf dem verzerrten Gesicht, das vor allem in dem hasserfüllten Blick zum Ausdruck kam, den er auf Susanne geworfen hatte.
»Was redest du denn von Individualität!«, sagte er ruhig und in einem Ton, als ob er mit diesen Worten etwas ganz anderes ausdrücken wollte. »Das ist doch alles Mist! Wir sind doch längst alle gleich. Guck uns doch an! Wir haben alle die gleiche Jeans. Wir reden die gleichen Sachen und denken die gleichen Gedanken.« Er sprach mit leicht angedeutetem Spott, war aber zugleich immer noch äußerst erregt, blickte argwöhnisch um sich mit seltsam flimmerndem und gleichzeitig ekstatischen Blick, so dass er die allgemeine Aufmerksamkeit im Restaurant fesselte. »Und was noch bedeutsamer ist: Wir sind alle Konsumenten. Wir wollen alle das Gleiche. Und das nicht erst als die zweitklassigen Dandys, die wir seit der Eröffnung der Kaufhäuser und der Erfindung des Schaufensters geworden sind. Verfressen, gierig und ungeduldig sind wir und wollen wenigstens unseren Frieden, am liebsten das Glück, auf jeden Fall aber Wohlstand. Die Dinge um uns herum scheinen das Glück buchstäblich zu versprechen. Also begehren wir sie. Wir wollen sie betrachten, kosten, einatmen, begreifen – sie in Besitz nehmen.«
Susanne lachte auf. »Bist du dir sicher?«, fragte sie und wischte mit der Handkante die Brotkrumen vom Tisch. »Siehst du das vielleicht nicht etwas zu eng?« Sie blickte ihn freundlich an und wartete darauf, dass er etwas entgegnete. »Du bist borniert«, sagte sie nach einer Weile. »Das habe ich leider erst viel zu spät bemerkt. Und der Bornierte ist ohne Arg gegen sich selbst. Er hält sich für gescheit und redet manchmal auch so, als wäre er es, weil er alles auswendig gelernt hat. Wie die Kakerlaken, die sich nicht aus ihren Löchern vertreiben lassen, lässt sich der Bornierte nicht aus seiner Dummheit werfen. Es ist unmöglich, ihn eine Weile ohne Scheuklappen umherzuführen und ihn zu zwingen, dass er sein dumpfes Weltbild mit anderen feinen Arten des Sehens zusammenhält. Dummheit ist lebenslänglich und leider hoffnungslos.«
»Du sprichst nicht von mir«, sagte er mit einem verlorenen, müden Lächeln auf den noch bebenden Lippen, »sondern von dir!«
»Nein, nein«, entgegnete sie ebenso lächelnd, »von dir!«

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Auch ein blindes Huhn ...

»Niemand ist so veranlagt, dass man ihm trauen könnte!«, sagte Lucia hochtrabend, während sie die Hand hob, um ein weiteres Kännchen Kaffee zu bestellen. »Absolute Macht über das Leben eines anderen Menschen…« 
»Unsinn!«, fiel ihr Helga ins Wort, die appetitlos in ihrer Sachertorte herumstocherte. »Ich würde nie auch nur daran denken, jemanden zu ermorden!« Die beiden älteren Damen saßen in einer Ecke im Maldaner, dem Kaffeehaus und selbsternannten Wohnzimmer von Wiesbaden, wie sie es jeden Dienstag und Donnerstag Nachmittag taten.
»O doch. Du würdest«, beharrte Lucia. »Wenn du weißt, dass es keine Konsequenzen hat! Du und jeder andere.«
»Aber das ist doch Quatsch«, entgegnete Helga erregt und warf die Kuchengabel geräuschvoll auf den Tisch.
»So? Meinst du?« Lucia lächelte und hob vielsagend die Augenbrauen. »Warum denkst du wohl, das um den Mord all diese raffiniert ausgeklügelten Hürden errichtet wurden?« Sie machte eine kurze Pause, um die Wirkung ihrer Frage abzuschätzen. »Weil es sich um ein Verbrechen handelt, zu dem jeder fähig ist. - Mord ist so natürlich wie Essen und Trinken.« Sie tat einen Schluck aus ihrer Tasse, wie um das Gesagte zu verdeutlichen. »Und dieser Gärtner ist dazu fähig. Das sage ich dir. Als ich mich bei ihm heute morgen noch einmal  nach dem Leben der Verstorbenen erkundigen wollte, war er nicht in seiner Wohnung, im Souterrain übrigens, sondern obendrüber, in ihrem Haus. Was hat er da gewollt, frag ich dich? Er ist doch nur ihr Gärtner, - äh, war ihr Gärtner. Das Haus war klinisch sauber. Alles piccobello. Kein Papier lag herum, die Bilder hingen an ihrem Platz…«
»Siehst du!«
»Ja, aber das ist es doch gerade. Alles verbreitet eine kühle, frostige Atmosphäre, als ob nie jemand im Haus gewohnt hätte, als ob man etwas vertuschen wollte.« 
»Hör mir doch auf! Ist es nicht so, dass wir immer nur das sehen, was wir sehen wollen? Seitdem du Trauerbegleiterin bist, siehst du überall nur Morde.« 

Bestellung signierter Exemplare hier auch unter dem Reiter "Kontakte". 


Niemand ist so veranlagt, dass man ihm trauen könnte! – Das ist die fixe Idee der Mainzer Grabrednerin Lucia Herzer, einer pensionierten Lehrerin, die hinter jedem Trauerfall einen Mord vermutet. Sehr zum Missfallen ihrer Wiesbadener Freundin Helga. Denn die selbst ernannte Mainzer Miss Marple geht dabei fast immer in die Irre. Sie beschuldigt unbescholtene Bürger und lässt sich zu waghalsigen Aktionen verleiten, die für die beiden Freundinnen nicht immer ungefährlich sind. Doch auch ein blindes Huhn wie sie findet manchmal ein Korn.
Dieser Stadtkrimi, an dem die Leser der „Stadtausgabe Mainz“ als Ideengeber mitgewirkt haben, ist mehr als nur eine bloße Aneinanderreihung von Aha-Erlebnissen – etwa wenn man die Kneipe an der Ecke oder bestimmte Mainzer Persönlichkeiten wiedererkennt. Er ist urkomisch und spannend zugleich.


Mittwoch, 7. Dezember 2011

Engel


Ein Mann, der es zuließ, dass er so roch, lebte sicherlich allein und war mit niemandem befreundet. Sie stellte sich vor, dass er irgendwelche schmutzigen Dinge tat und sich nichts dabei dachte, dass er mit Nutten schlief. Er war ein Mann ... Und irgendwie musste er seine Triebe befriedigen.
Sie kamen in sein spärlich möbliertes Zimmer. Am Fenster stand ein Schreibtisch, davor ein Stuhl. Zwei Sessel, deren Polsterbezüge blankgewetzt waren, und ein Abstelltisch in der Mitte des Zimmers, eine Bettcouch, ein großer Schrank und ein Bücherregal an der Wand. Aber überall dazwischen auf dem Teppichboden, der an einigen Stellen nahezu durchgeschlissen war, und auch auf dem Schrank standen oder lagen Engelsfiguren herum, kleine und große beflügelte, aber staubbedeckte Wesen: Friedensengel, Liebesengel, Gartenengel, Musikengel, Alpenengel, Kerzenengel, Engel mit Teelichthaltern, Schutzengel und Kindsengel, niedliche Putten mit Kopf und Flügeln, Erzengel, gewaltige Lichtgestalten mit vier oder sechs Flügeln oder gar mit Tierfüßen, Seraphim und Cherubim, Todes- und Racheengel, in denen der Zorn Gottes Gestalt angenommen hatte.
»Sie staunen über die vielen Engel?« fragte er. »Nicht wahr? – Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht aufgeräumt habe, aber ich konnte nicht wissen, dass ich so spät in der Nacht noch einen so reizenden Besuch wie Sie mit nach Hause bringe. – Aber nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf einen der Sessel. »Tja«, fuhr er am Türrahmen stehend fort, während sie sich durch die staubigen Engel hindurchkämpfte, langsam, damit sie keinen an- oder schlimmstenfalls umstieß. Man konnte ja nie wissen, was dabei alles aufstob: kleinste Lebewesen, die in ihren Mund gelangten und sich in ihren Nasenlöchern festsetzen konnten. Schuppen, Schorf und getrockneter Schleim. Sie wagte kaum zu atmen. »Ich betreibe einen kleinen Webshop. Mit den Engeln. Aber das Geschäft läuft nicht mehr so gut. Ich weiß nicht, warum. Am Anfang wurden mir die Engel noch regelrecht aus den Händen gerissen. Aber jetzt … Ganz anders ist es mit den Engelsessenzen.« Er deutete auf die kleinen, braunen Arzneifläschchen, die auf dem Fenstersims standen. »Das Geschäft boomt regelrecht.« Er räusperte sich, als sei es ihm unangenehm, darüber zu sprechen. »Aber was rede ich da? Es interessiert sie ganz sicher nicht.«
»Doch«, versetzte Marina schnell, die von so etwas noch nie gehört hatte. Sie war gerade am Bücherregal vorbeigekommen und musste einen Schritt zurücktreten, um keinen der Engel, die auf dem Boden herumstanden, umzustoßen. Dabei fuhr sie nur leicht mit dem Finger über das Regal. Staub! Überall. Zum Glück trug sie Handschuhe. Sie hielt die Luft an, nur kurz. »Reden Sie nur weiter«, sagte sie, »Was sind denn Engelsessenzen?« Sie war endlich am Sessel angekommen und setzte sich, aber behielt Handschuhe, Mantel und Jacke an.
»Engelsessenzen sind in Alkohol oder Wasser gebannte Energien, die von Engeln stammen. Sie verbreiten positive Schwingungen, die auch den Raum reinigen. Es handelt sich hierbei sozusagen um metaphysische Raumsprays.«
»Metaphysische Raumsprays«, wiederholte sie ungläubig und dennoch gespannt. Sie setzte sich in den Sessel. Das Blut pochte ihr bis in den Hals. Sollte sie sich in Beck getäuscht haben. War er doch kein Mann, der schmutzige Dinge tat? Ein feinsinniges Wesen etwa, wie sie selbst? Wenn er auch nicht von dem Getrampel einer Mücke in Ohnmacht fiel und von dem Geruch faulender Blumen Konvulsionen bekam … »Wie kommen Sie zu solchen Engelsessenzen?« fragte Marina jetzt voller Neugier. Sie hatte ein starkes Kratzen im Hals.
»Nun«, erwiderte Beck, der immer noch im Türrahmen stand. Er zögerte etwas mit der Antwort. »Ich füll ein kleines Fläschchen mit reinem Alkohol ab und bitte dann den entsprechenden Engel, die Flüssigkeit zu energetisieren. Jeder Engel steht für eine besondere Eigenschaft. Der Flascheninhalt färbt sich daher immer unterschiedlich ein. Wenige Tropfen dieser Essenz werden dann in einem eigenen Fläschchen mit destilliertem Wasser vermischt, weil es weniger Informationen trägt als das Quellwasser. Die geballte Ladung der Originalflasche könnte man gar nicht aushalten. Die Mischung und Anzahl der Tropfen wird immer individuell abgestimmt. Danach wird das Fläschchen energetisch versiegelt, so dass keine Fremdeinwirkung hinzukommen kann.«
»Kann das jeder machen?«, fragte sie immer noch neugierig.
»Ich denke nicht.« Beck kratzte sich an der Glatze. Sein Gesicht wirkte teigig. »Man muss es in sich spüren. Man muss die Fähigkeit besitzen, sich mit den Engeln und anderen unsichtbaren Wesenheiten verbinden zu können.«
Marina hörte gespannt zu, wurde unruhig in ihrem Sessel. »Und was geschieht …«, begann sie die Frage, wusste aber nicht, wie sie sie formulieren sollte. »Mit Engeln kenn ich mich nicht besonders aus. Engel oder Lichtgestalten haben doch, soweit ich weiß, nicht nur gute, sondern auch schlechte Eigenschaften.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts besonders.« Sie begann zu stammeln. »Ich, ich will nur sagen, wenn ich mich hier umblicke, sehe ich auch Racheengel.« Sie schwieg eine Weile, bevor sie weiter sprach. »Und Racheengel haben doch auch böse Eigenschaften. Kommen auch diese Eigenschaften zum Tragen? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will sagen: Auch Luzifer ist doch ein Engel oder war ein Engel.«
Es wurde einige Sekunden vollkommen still. Marina hörte ihr Herz schlagen.
»Sie wollen also fragen«, durchbrach Beck die Stille, indem er genauso stammelte wie zuvor Marina, »ob ich auch Essenzen von Luzifer habe?«
Marina nickte.
»Keine Angst. Ganz sicher nicht! Bisher habe ich nur mit reinen Engeln zu tun gehabt, die ganz von Liebe durchzogen waren. Unreine Engel kann ich mir gar nicht vorstellen. Obwohl es sie sicherlich gibt.« Beck stockte. Er wurde unruhig. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob sie etwas trinken möchten? Ich mach mir einen Tee.«
»Nein, danke!« entgegnete sie. »Wasser wäre mir lieb.« Sie würde nicht lange bleiben. 

Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 


Dienstag, 6. Dezember 2011

Lachen


Er hatte den Satz noch nicht beendet, da brach der ganze Saal in schallendes Gelächter aus. Es rollte von einer Ecke zur anderen. Die Reihen bogen sich.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es ganz gleich war, was er sagte, - die Menschen lachten. Es war eine Gabe, ein Talent, die Menschen zum Lachen zu bringen, nicht die akademische Rede. Er begriff, dass sich hinter dem Lachen kein Scheiterhaufen aufrichtete, dass Heuchelei und Betrug niemals lachten, sondern eine ernsthafte Maske anlegten, dass das Lachen nicht von Furcht, sondern vom Bewusstsein der Kraft zeugte, dass Lachen mit dem Zeugungsakt, der Geburt, der Erneuerung, der Fruchtbarkeit, dem Überfluss, dem Essen und Trinken, mit der irdischen Unsterblichkeit des Volkes, endlich mit der Zukunft und dem Neuen zusammenhing, dass es ihnen den Weg bahnte. Er begriff aber auch, dass es ihm selbst eine große Chance bot. Wer die Kunst beherrschte, die Menschen zum Lachen zu bringen, konnte anderen einen Spiegel vorhalten, ohne dass er verunglimpft wurde, konnte die Wahrheit sagen, ohne dass man ihn tötete; er hatte letztendlich Macht, viel Macht, die er für seine Zwecke einzusetzen verstehen würde. 

Montag, 5. Dezember 2011

Schwermut

»Die Zunge«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo ich meine Zunge hinlegen soll.« Sie umgab ein schweres, undurchdringliches Dunkel und hielt ihr Hirn wie mit eisernen Klammern umfasst.
Er lehnte sich nach hinten gegen sie, angezogen von dem vertrauten Geruch ihres Haars. Plötzlich zitternd angesichts der Gefahr dessen, was geschehen würde, löste er seine Finger von ihrem Arm.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte sie. Ihre warmen Lippen streiften seine Wangen, und dann strich sie in einer Geste beiläufiger Vertrautheit das Haar aus seinem Gesicht.
Laute Stimmen, ein vergnügter Ausruf gefolgt von behäbigem Lachen hallten unvermutet durch den Innenhof.
»Es war dein Wunsch«, sagte er leise. »Nicht meiner.« Er stand auf und sah sie an. Ihr Blick war leer und unbeteiligt. Er spürte ihre wirkliche, ihre unheilbare Wunde, die schwermütige Antriebslosigkeit, die Traurigkeit, die sich zwischen ihnen wie eine Wüste erstreckte; sie kam und ging wie ein fremdes Wesen. Sie hatte verhindert, dass sie ihre Talente voll ausschöpfen konnte, hatte ihrer beider Leben in den letzten Jahren zu einer Tortur werden lassen. Sie hatte es ihnen überhaupt unmöglich gemacht, die einfachen Freuden des Lebens zu genießen, die anderen Menschen durch das Leben helfen.
»Weck mich morgen früh«, sagte sie. »Und wenn ich nicht aufstehen will, dann zieh mich aus dem Bett.«
Wie ein Schatten stand er im Raum und ging mit seinen harten Augen über den schmutzigen Boden. »Hast du mich deswegen kommen lassen?«
Sie antwortete nicht.
Plötzlich empfand er eine wütende Empörung, nicht darüber, dass sie schwieg, sondern dass sie ihn wieder einmal mit einer aufreizenden Gelassenheit instrumentalisierte. »Ich kann doch dein Leben nicht leben«, sagte er, »nur weil ich es verstehe, besser zu leben.«
Sie stand auf und mit einem Male lag sie ihm am Hals. Ihm war, als hätte er ihr Herz leibhaftig und blutend und stoßend in seine Hand, und es rönne ihm über die Finger. Nie wieder würde er ein fremdes Leben so fühlen. 

Freitag, 2. Dezember 2011

Eine neue Frisur


»Du glaubst, du liebst mich nicht mehr?«, fragte sie. Ihre Lippen bebten. Dann befreite sie ihre Hand aus der seinen. »Wie kannst du das so einfach sagen? – Wie?« Sie sah ihn finster und durchdringend an, wartete auf eine Antwort.
Doch er schwieg, den Blick in die Leere gerichtet.
»Sag doch einfach, was du denkst!«
Er sagte nichts.
»Wenn das so ist, lasse ich dich mit deinen Gedanken alleine«, sagte sie nach einer Weile mit Unheil verkündender Stimme, als ob seine Gedanken fähig sein könnten, ihn zum Wahnsinn zu treiben.
Ihm schwirrte der Kopf, als sie den Raum verließ, seine Hände zitterten, er war völlig verwirrt. Wie konnte es sein, fragte er sich, dass ein neues Kleid, eine neue Frisur - Oder war es etwas anders? -, dazu führt, dass die Anziehungskraft, die eine Person lange genug ausgeübt hat, sich plötzlich in nichts auflöst? Und was bedeutet das umgekehrt für einen selbst? Bewegungslosigkeit und ewige Selbstkontrolle? Ein Leben vor dem Spiegel? Er mochte gar nicht daran denken.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Der Kuss

Sie hat auf dich gewartet, während sie hinter ihren halbgeöffneten Fensterläden saß. Durch die Schutzgitter belauert sie jeden Augenblick des Tages. Die Passanten, die Besucher wissen, und auch du weißt, dass sie dort sitzt, denn du hörst sie husten, zur Zeit der Siesta genau wie am kühlen Abend. Sie hat jede deiner Gesten beobachtet, während du dich von ihm verabschiedet hast. Du hast dir eingebildet, sie würde dich dabei bespitzeln. Aber als du ihr Zimmer betrittst, siehst du ihre Augen glänzen und weißt, mit wem du es zu tun hast. – Als ob eine Freundin der anderen zur Spionin werden könnte!
»Wenn es dich nicht gäbe«, sagst du jetzt unverstellt und voll Herzlichkeit, während du an das Fenster trittst und hinausblickt, um zu prüfen, ob sie wirklich alles gesehen hat, »wüsste ich gar nicht, wo ich mit all meinen Problemen hin sollte.« Du hältst inne und wartest, dass sie dir etwas Ähnliches entgegnet.
Doch sie entgegnet nichts. Ihr Blick senkt sich verschleiert auf dich, und hinter diesem Schleier ahnst du eine zögernde Zärtlichkeit.
Du zügelst dein Verlangen, sie auszufragen, was du für sie bedeutest, denn du willst, dass sie es von sich aus sagt. Du bist zu stolz, um solche dummen Fragen zu stellen wie »Was bedeutet ich dir?« oder »Liebst du mich?« Zumal sie nicht dein Liebhaber ist. Sie ist deine beste Freundin. Zumindest glaubst du das. Aber wie kannst du dich ihrer versichern, damit du ihr endlich sagen kannst, was sie schon weiß? - Dass er dich zum Abschied geküsst hat.
Aus Verlegenheit, betastest du mit deinen frisch für ihn manikürten Fingern den Stoff ihres Kleides und fragst, ob es neu sei; sagst, du hättest es noch nie an ihr gesehen. Obwohl es gelogen ist. Du stockst einen Augenblick wie verblüfft, als glaubtest du selbst nicht, dass du eine solche Lüge aussprechen könntest, während in ihren Augen etwas Neues aufflammt. Sie sieht dich scharf und fest an. Sie ist klug und erkennt jeden falschen Zug, jede versteckte Lüge, jedes verborgene Problem. Daher ist sie ja auch deiner Freundin. Du musst ihr jetzt sagen, was sie schon weiß. Du willst sie doch nicht verlieren!
Du gehst um sie herum, packst den Griff vom Rollstuhl und schiebst sie mit einem Ruck vom Fenster weg, als wolltest du sie für das, was sie gesehen hat, bestrafen, obwohl sie dich bestrafen müsste, weil du vielleicht ihre geheime Liebe geküsst hast.
»Ich will nicht«, sagt sie jetzt.
Du spürst, dass sie mehr und mehr eine nervöse Abneigung gegen dich empfindet. Mit einem geheimen Lustgefühl sucht sie nach einer Gelegenheit, dir irgend etwas Böses zu tun. Warum sonst, gibt sie dir ein Gefühl der Unterlegenheit?
»Ich will am Fenster bleiben.«
Du fühlst den Hass, der in ihrem Ton aufklingt, die angeborene Missgunst der Nebenbuhlerin und lässt den Rollstuhl los. Soll sie doch sehen, wie sie ohne dich zurecht kommt!
»Ich geh jetzt«, sagst du, ohne selbst zu verstehen, wie du derartige Worte aussprechen kannst, und stürzt zur Tür.
»Aber was ist denn?«, ruft sie dir nach. »Was ist denn mit dir los?«
Als ob sie das nicht wüsste, denkst du und drehst dich noch einmal um. Bei diesem Blick voller Nachsicht musst du beinahe kotzen.
»Du bist neidisch«, sagst du wütend, »weil du hier im Rollstuhl sitzt, während ich ihn da draußen küsse. -  Solange es mir schlecht geht, ist alles ok. Da bist du für mich da. Hörst mir zu und gibst mir Ratschläge. Weil es dir selbst schlecht geht. Weil du mich für deinesgleichen hältst. Aber sobald es mir gut geht, sobald ich glücklich bin, ist das vorbei.« Du machst eine Pause, beinahe erleichtert, während sie in ein Lachen ausbricht, in eine heiteres Lachen ohne jede Bosheit.
Sie rollt auf dich zu und versperrt dir den Weg.
»Du bist keine Heilige«, fügst du errötend hinzu, »sondern eine Scheinheilige«, und von diesem Augenblick an weicht dir die Röte nicht mehr von deinem Gesicht.
»Du bleibst hier«, sagt sie. »Bis wir alles geklärt haben.«
Sie nimmt deine Hand, sanft und ohne Eile.
»Wie lange kennen wir uns schon?« fragt sie, ohne deine Antwort abzuwarten. »Zehn, fünfzehn Jahre? – Ich weiß es nicht. Während all dieser Jahre haben wir uns gegenseitig immer nur die Scheiße erzählt, die uns widerfahren ist. Nie war etwas Erfreuliches dabei. Wir haben uns gegenseitig bemitleidet. Vielleicht auch gestärkt. Auch das, weiß ich nicht. Daher hab ich mir gewünscht, dass du mir, ohne dass ich nachfrage, erzählst, dass du glücklich bist, weil er dich endlich geküsst hat, obwohl du weißt, dass ich euch dabei beobachtet habe. Das klingt jetzt kompliziert. Aber ich hätte dann so getan, als wüsste ich von nichts, und hätte dir meine Freude so am besten zeigen können. Ehrlich! Denn nicht Mitleid macht wahre Freundschaft aus, das kann jeder, sondern Mitfreude.«

Montag, 28. November 2011

Weiße Lügen

Stolz öffnete er die Tür zu dem Raum, den er Wohnzimmer nannte. »Sophie und ich haben alles minimalistisch gehalten«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung, die nicht zu seinen Worten passen wollte, und schon gar nicht zu den vier, fünf Möbelstücken, die vereinzelt auf einem marmornen Boden herumstanden: ein gläserner Couchtisch, der leicht zu übersehen war, ein riesiges schwarzes Ledersofa und drei dazugehörige Sessel. Keine Bücher, keine Bilder an der Wand, kein Teppich, nichts. Und auch hier dieses blendende Weiß, dem nichts entging, das auf alles wirkte, das es umgab, und dessen Aufgabe es war, zu entblößen und zu reinigen, wie er immer wieder betonte, während er mich an den schnatternden Partygästen vorbeiführte.
Und er hatte Recht! Sein großes, weißes Haus wirkte leer, selbst wenn es voll war, - weil das meiste, das darin stand, nicht hineingehörte und bald wieder daraus entfernt werden würde. Das waren vor allem all diese gut aussehenden Menschen, die er seine Freunde nannte, und was sie bei sich trugen. Nur wenige Dinge wirkten hier am Platz und noch weniger wirkten sie zu Hause. Diejenigen Dinge aber, die am Platz wirkten, die hierher zu gehören schienen, sahen aus, als wären sie vorher präpariert, ja als wären sie bereits von innen heraus gereinigt worden. Das galt auch für Sophie, die mit hübschem leeren Lächeln am Eingang stand und die Gäste mit einem immer vollen Pro-Secco-Glas begrüßte.
»Na, was sagst du?«, fragte er. »Habe ich übertrieben? Die Räume sind sehr direkt und sehr klar angelegt. In ihnen gibt es keine Möglichkeit zur Lüge.«
Ich nickte.
»Weil sie nur das sind, was sie sind.« Er packte mich plötzlich am  Arm. »Und zum Abschluss –«, er machte eine Pause und kniff eins, zwei Mal das linke Auge zu, als wolle er mir zuzwinkern. »Zum krönenden Abschluss zeige ich dir unser Allerheiligstes, wenn du willst, den Ort unserer heißen Liebesnächte.«
»Auch in Weiß?«, fragte ich und ließ es nach Bewunderung klingen.
»Ganz in  Weiß!«, antwortete er immer noch voller Stolz.
»Und darin wahrscheinlich ein Riesenbett. Und sonst nichts?«
»Ja, woher ...«
»Nein«, unterbrach ich ihn und klopfte ihm jovial, fast mitleidig auf die Schulter, »das brauch ich nicht mehr zu sehen.«

Freitag, 25. November 2011

Die Samen der Gedanken


Immer wieder brachte der Wind frische Rauchwolken, und die Leute brachten neue Gerüchte ins Dorf. Dass jetzt endlich alle frei seien, hieß es. Dass es keinen Zehnten mehr gäbe, und überhaupt: keine Oberen.
Doch keiner wunderte sich mehr darüber. Vor kurzer Zeit noch wäre es ein unglaubwürdiges Märchen gewesen, was jetzt Wirklichkeit war. Aber was war schon Verwunderliches daran, wenn Gedanken wahr wurden. Auch Träume und Wünsche konnten wahr werden, warum nicht auch Gedanken. Und was waren Wünsche anderes als Gedanken. Die Seele des Menschen besaß eine verborgene Kraft, die wie im verborgenen Raum der Scheide des Geschlechts die Samen der Gedanken aufnahm, das Empfangene warm hielt und zur Welt brachte. 

Donnerstag, 24. November 2011

Kaltgepresstes Sonnenblumenkerneöl

Beck kaute gerade kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl und zog es durch die Zähne, als das Telefon klingelte.
»Ja!« brummelte er unverständlich in den Hörer.
»Wer spricht da?« hörte er eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung fragen. Er presste die weiße Masse unter die Zunge und legte seinen Kopf leicht zurück. »Wer spricht da?« fragte er zurück, dabei achtete er darauf, dass er nichts von dem weißgekauten Öl verschluckte.
»Sie haben sich zu melden!« forderte ihn die Stimme hart und unfreundlich auf.
»Sie haben angerufen. Sie haben sich zu melden!« gab er verärgert zurück. Das Öl lief ihm am rechten Mundwinkel hinab. »Sie stören meine Intimsphäre!«
»Mein Gott!« stieß die Frau spöttisch hervor. »Sie haben eine Intimsphäre? – Das tut mir aber Leid!« Mit einem lauten Krachen legte sie auf.
Er schluckte wütend. Viel zu viel Sonnenblumenkernöl schluckte er hinunter, und wurde noch wütender.
Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen nahm er auf nüchternen Magen einen Esslöffel davon, kaute es und gurgelte damit. Zwanzig Minuten lang. Dabei durfte ihn niemand stören. Wirklich niemand! Auch nicht seine Lebensabschnittsgefährtin, wie er seine jeweilige Freundin abfällig nannte, falls er gerade eine hatte. Und es waren nicht viele gewesen, seitdem er vor zehn Jahren mit dem Ölkauen angefangen hatte. Genauer gesagt, drei an der Zahl. Jede von ihnen hatte allmorgendlich mehr als zwanzig Minuten warten müssen, bis er fertig gekaut, den Mund ausgespült und die Zähne geputzt hatte, bevor sie ihn hatte ansprechen können. Vom Frühstücken ganz zu schweigen. Zwanzig Minuten am Morgen aber waren, bei aller Liebe, wenn es denn Liebe gewesen war, was sie zusammengebracht hatte, auf die Dauer einfach zu viel, als dass man sie mit genervtem Warten hätte vergeuden können. Mit drei Minuten. Ja, damit konnte eine Frau leben. Aber gleich zwanzig? Jeden Tag. Und das in einer Einzimmerwohnung. Wie viele Morgenträume hätte sie noch haben können, anstatt von einem schmatzenden und Öl gurgelnden Frühaufsteher geweckt zu werden?
Die erste, Helga hieß sie, hatte die Prozedur dreiundzwanzigmal über sich ergehen lassen, dann war sie ausgerissen. Sieben Stunden und vierzig Minuten, hatte sie vorher überschlagen, hatte er ihr so gestohlen.
Roswitha, der nächsten, hatte er einen ganzen Tag gestohlen. Genau zwei Monate und elf Tage hatte ihre Liebe gedauert, bis ihr der Verlust bewusst geworden war. Danach hatte er sie nicht mehr halten können. »Du hast mir einen ganzen Tag meines Lebens geraubt!« hatte sie ihm im engen und muffigen, nach Ratten, Tauben und Schabenvertilgungsmittel stinkenden Treppenhaus in den fünften Stock hinauf geschrieen. Dabei hatte sie einen Penner umgestoßen, der sich gerade auf der fünfundfünfzigsten Stufe rekelte, weil er Schutz vor dem Regen gesucht hatte. Fünf Stockwerke, hatte sie gedacht, als sie die Haustür hinter sich zufallen hörte. Das sind einhundertundfünf Stufen. Und die hoch- und runtersteigen. Das sind noch einmal mindestens dreieinhalb Minuten. Und das in zweieinhalb Monaten mehr als zweiundsiebzigmal. Bei dem Gedanken hatte es ihr fast zwei weitere Minuten lang vor den Augen geschwindelt ...
Karin schließlich hatte es immerhin auf mehr als drei Monate mit ihm gebracht. Denn gleich nach der ersten Nacht hatte er ihr – noch vor dem Gurgeln – weitsichtig erklärt: Während er Öl kaue, dürfe er auf keinen Fall sprechen, geschweige denn essen. »Kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl«, hatte er ihr dann mit ernster Miene eröffnet, »ist gegen Pickel. Im Mundraum löst es nämlich sämtliche schädlichen Keime und Bakterien auf, die sich über Nacht im Körper angesammelt haben. Es entgiftet ihn sozusagen und wird selbst giftig. Sehr giftig sogar. Deshalb spuck ich es nach jeder Prozedur in diesen Kanister.« Er hatte auf einen großen, rostigen Behälter unter der Spüle gezeigt. »Ich verschließe ihn fest und bringe ihn alle zwei Wochen dienstags zum Schadstoffmobil, an der Massai-Bar, damit es mit anderem Problemabfall und dem toten Kleingetier aus privaten Haushalten entsorgt wird.« Um dem Gesagten Bedeutung zu verleihen, hatte er eine Weile geschwiegen und dann mit noch ernsterer Miene hinzugefügt: »Und wenn ich beim Ölkauen spreche, das siehst du doch ein, könnt ich das giftige Öl verschlucken – Himmel! Wer weiß, was dann geschieht!« Das alles hatte auf Karin zwar irgendwie einen starken Eindruck gemacht, anfangs sogar sehr stark, doch nach mehr als dreißig verlorenen Stunden war auch der stärkste Eindruck verblasst, und nach der dreiunddreißigsten war auch sie weg gewesen.
Keine hatte ihn verstehen wollen. Auch und schon gar nicht diese blöde Ziege am Telefon. Wegen ihr hatte er jetzt dieses giftige Öl verschluckt! Wie ein Derwisch sprang er in der kleinen Wohnung herum und wusste nicht, was er machen sollte.
Ich werde sterben, dachte er, ließ alle Vorsicht fahren und spuckte das restliche Öl in seinem Mund, anstatt in den sicheren Kanister, in die Kloschüssel. Ihm war speiübel. Er steckte den Finger in den Hals. Irgendetwas musste doch noch zu retten sein? Der Würgereiz war da, doch das giftige Öl wollte nicht wieder aus ihm heraus. Er beugte sich über die Kloschüssel. Er kitzelte sein Zäpfchen. Fehlanzeige. Wütend schob er nun alle seine Finger, bis auf den Daumen, in den Hals. Wieder Fehlanzeige. Vielleicht half eine Klobürste? Ein Löffel? Ein Kochlöffel? Genau justiert. Der Deostick hatte die exakte Passform für seinen Mund! Er steckte ihn hinein. Hantierte damit herum, während er sich mit der linken Hand an der Klobrille abzustützen versuchte und auch daran riss. Im Eifer des Gefechts glitt er immer wieder davon ab. Mehrmals wäre er fast mit dem Kinn und dem Stick im Mund daraufgeknallt. Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre! Die ganzen teuren Kronen! Das neue Implantat. Es reichte schon, dass er bei diesem mühsamen Verfahren den Klosettsitz demolierte. Dann endlich kam es: eine ätzende Brühe aus Galle und Schleim. Er würgte. Er würgte fast den Magen selbst heraus. Aber dann kam nichts mehr, nur der Brechreiz dauerte noch an; der Magen krampfte sich immer noch schmerzhaft zusammen. Er richtete sich auf und inspizierte die Flüssigkeit in der Kloschüssel. Ob das giftige Öl dabei war, konnte er nicht feststellen. Schnell drückte er auf die Wasserspülung, damit das Gift weggespült wurde. Schnell ging er auch zur Dusche, um den Mund mit dem Brausekopf zu entseuchen. Er spülte ihn aus. Mehrmals. Erst mit Leitungs-, dann mit Mundwasser. Er putzte sich die Zähne. Hektisch. Bis das Zahnfleisch blutete. Spülte den Mund wieder aus. Setzte sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass etwas passierte. Eine ganze Kanne Kamillentee trank er, während er wartete, dabei zappelte er auf seinem Stuhl unruhig wie ein Suppenkasper hin und her. Ich werde sterben, dachte er immer wieder. Gleich werde ich sterben! – Doch er starb nicht. Nicht nach der ersten, nicht nach der zweiten und nicht nach der dritten Kanne Kamillentee. Auch nicht, nachdem er zehnmal aufs Klo gerannt war.
Wenn die Gifte jetzt noch nicht ausgespült worden sind, mutmaßte er nach eineinhalb Stunden, sind sie schon ins Gewebe und in den Körper übergegangen. Dann hilft nur noch kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl, folgerte er lächelnd. Siegessicher nahm er wieder einen Esslöffel dieses kostbaren Öls und begann zu kauen. Eine Stunde lang würde er kauen, nahm er sich vor.
Plötzlich klingelte das Telefon. Er stöhnte, dabei achtete er darauf, nichts zu verschlucken. Schon wieder, dachte er. Soll es doch klingeln. Ich werde nicht drangehen. Wer weiß, was dann passiert?
Und er ließ es klingeln. Fast eine halbe Stunde lang ließ er es klingeln, mit kurzzeitigen, aber für ihn unerheblichen Unterbrechungen, bis er völlig entnervt mit dem Öl im Mund den Hörer abnahm und ein undeutliches »Ja« hineinblubberte.
»Beck? Sind Sie das?« Dieses Mal vernahm er eine Männerstimme.
»Ja!« wiederholte er deutlich und verschluckte etwas Öl. Er war nervös. Er hatte schweißkalte Hände und rote Flecken im Gesicht.
»Ist alles in Ordnung?« Die Stimme klang sanft in seinem Ohr. »Was haben Sie denn?«
»Nichts!« presste Beck heraus. »Einen Moment!« Er legte den Hörer zur Seite, stürmte ins Badezimmer, beugte sich über die Toilettenschüssel und spuckte das gesamte Öl hinein. Kurz nur spülte er den Mund aus und ging, ohne die Zähne zu putzen, mit einem schalen Geschmack auf der Zunge wieder zum Telefon zurück.
»Hier bin ich wieder«, sagte er etwas säuerlich.
»Ja, lieber Herr Beck, was machen Sie denn?«
Beck gab keine Antwort. Er versuchte, so wenig wie möglich zu sprechen und erst recht nicht zu schlucken. Schließlich mussten noch Reste des giftigen Öls in seinem Mund sein.
»Komme ich ungelegen?« fragte die Stimme beunruhigt. War Beck doch sonst so entgegenkommend, so freundlich und redselig, ja geradezu aufdringlich. Er fragte immer nach dem werten Befinden und ließ nicht eher locker, als bis alle Geschehnisse, gar alle Gefühlsschwankungen der letzten Tage aufgeführt und erörtert waren. Aber heute Morgen war er so zurückhaltend, so ...
»Nein«, log Beck wenig überzeugend.
»Sie sind heute so wortkarg, mein lieber Herr Beck«, versuchte der Anrufer Becks seltsamem Gebaren auf die Spur zu kommen und fügte halb scherzhaft hinzu: »Wortkargheit schadet Ihrem Berufsstand!«
Doch Beck schwieg weiterhin und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Nun gut«, schien der Anrufer nachzugeben. »Ich mache es kurz. Ich habe einen Auftrag für Sie.« Er wartete auf eine Reaktion.
Beck rührte sich nicht, wagte kaum zu atmen. Starr stand er, den Hörer in der Hand, im winzigen Flur und zerbrach sich den Kopf darüber, ob er das Telefonat, ohne noch irgend etwas zu entgegnen, jemals hinter sich bringen könnte oder ob er den Hörer kurzerhand auflegen und später, wenn sie sich treffen würden, erklären sollte, dass er, warum auch immer, nicht habe telefonieren können, oder, um allem künftigen Ärger entgegenzutreten, ob er ihn dann einfach belügen sollte, dass ihm der Hörer aus der Hand geglitten sei. Auf keinen Fall würde er sagen können, dass er gerade Sonnenblumenkernöl im Mund gehabt hätte. Wie würde er dann dastehen?
»Einen delikaten Auftrag!« fügte der Anrufer nach einer Weile gewichtig hinzu, um dann gottlob ohne Pause fortzufahren. »Es handelt sich um einen Freitod. Ein Student. Seine Eltern, sie leben in Brasilien, haben mich telefonisch mit der Bestattung betraut. Sie soll übermorgen stattfinden. Und Sie ... Sie sollen die Trauerrede halten. – Schaffen Sie das?«
Beck nickte zustimmend, obwohl ihn Kiefer, der Inhaber des Bestattungsinstituts am Schillerplatz, am anderen Ende der Leitung nicht sehen konnte. Natürlich schaffte er das. Schließlich war er professioneller Grabredner. Der einzige in der Stadt. Trauerbegleiter, wie man seit neuestem dazu sagte. Seit nunmehr zehn Jahren war er das. Seitdem er mit dem Ölkauen angefangen, das Theologiestudium abgebrochen und sein Leben von Grund auf geändert hatte, war er das. In jeder nur erdenklichen Form hatte er das Leben der Verschiedenen, wie er die Toten beschönigend nannte, gewürdigt, hatte Trauerreden gehalten, auf Wunsch sogar Todesanzeigen verfasst, Kondolenzschreiben, Nachrufe, Gedenkreden und Danksagungen, kurzum alle Texte, die mit dem Tod zu tun hatten. – Wenn er es nicht schaffte, wer dann?
»Schaffen Sie das?« wiederholte der Anrufer.
Beck versuchte, nicht zu schlucken. »Selbstverständlich!« gab er mit leicht geöffnetem Mund, ohne den Kiefer zu bewegen, zurück.
»Sie haben aber nicht mehr viel Zeit.«
»Ich weiß.«
Philipp Beck brauchte Zeit. Für alles brauchte er Zeit. Viel Zeit. Auch und besonders für seine Trauerreden. Ausgiebig und mit größter Sorgfalt sprach er mit den Hinterbliebenen, ortete die Verhältnisse, ja, stellte regelrechte Nachforschungen über das Leben der Verstorbenen an. Manchmal kamen sie sogar polizeilichen Ermittlungen gleich. Alles wollte er wissen, um eine möglichst gute Rede halten zu können. Er dachte sich in die Toten hinein, um ihren Stärken und Schwächen, ihren Fehlern, Sehnsüchten und unerfüllten Träumen gerecht zu werden, und ehe er sich versah, war er mit ihnen eine eigenartige, fast liebevolle Beziehung eingegangen, kannte sie besser, als manch einer ihrer guten Freunde. Wurde ihm zu einer gelungenen Rede gratuliert, sie waren meist gelungen, und wurde er dann gefragt, wie er die oder den Verstorbenen denn so treffend hätte beschreiben können, er habe sie oder ihn doch gar nicht gekannt, pflegte er bescheiden, aber sibyllinisch zu antworten: »Der Tod ordnet so manche Dinge!« Aber es war nicht nur der Tod, nein, es war auch er, Beck, der die Dinge ordnete. Mit viel Mühe und viel Fleiß. Und Zeit! Viel Zeit.
Nicht schon wieder konnte er eine Trauerrede ablehnen, weil er zu wenig Zeit hatte. Das Bestattungsinstitut am Schillerplatz würde ihn dann nicht mehr engagieren. Nie mehr, das wusste er. – Ein Auftraggeber weniger. – Auch wenn er der einzige Trauerbegleiter in Mainz war. Jenseits des Rheins, in Wiesbaden und Frankfurt gab es genügend wie ihn. Außerdem brauchte er das Geld. Der Webshop, den er seit sieben Jahren nebenbei unterhielt, warf schon lange nicht mehr so viel ab, als dass es für die Miete gereicht hätte. Die Zeit für Engelsfiguren aus dem Internet war einfach vorbei. Zumindest erstand sie kaum jemand mehr bei ihm. Mochten sie auch noch so ausgefallen sein.
»Ich werde es machen!« sagte er entschlossen. Die Ölreste in seinem Mund hatte er vergessen. »Wannnnn«, zog er die Buchstaben in die Länge, um nach einer Formulierung zu suchen, in der das Wort Selbstmord oder Freitod nicht vorkam. Denn eine Grabrede für einen Selbstmörder war eine heikle Angelegenheit, selbst und gerade für Beck, der ein Meister der Euphemismen, ein Schönredner par exellence war. Er musste diese beiden Worte umschiffen. Das erwarteten die Hinterbliebenen von ihm. Er konnte sie doch nicht mit dem schalen Geschmack der Schuldgefühle am Grab stehen lassen. »Wann ist es denn passiert?«
»Keine Ahnung! Man hat ihn am Freitag gefunden.«
»Freitag«, wiederholte Beck, als ob es irgendeine Bedeutung hätte. »Und wie hieß der Verstorbene?«
»Stefan Neubauer.«
»Stefan Neubauer«, wiederholte er. Der Name sagte ihm nichts. »Hat er Verwandte in der Stadt, die ich befragen kann?«
»Nein. Er hat keine Verwandten mehr. Zumindest nach Angabe des Vaters nicht. Das ist neben noch ein paar kleinen Unregelmäßigkeiten, über die ich Ihnen jetzt leider noch nichts Genaues sagen kann, ja das Delikate. Und auch seine Eltern wollen, Gott weiß warum, nicht mehr mit dem Tod ihres Sohnes behelligt werden. Es ist also nicht dienlich, sie in Brasilien anzurufen.« Er schwieg für einen Moment. »Halten Sie doch einfach eine Standardrede. Mehr wird von Ihnen in diesem Fall auch nicht erwartet.«
»Das kann und möchte ich nicht«, erwiderte Beck dickköpfig. »Hatte er denn Freunde?«
»Ich weiß es nicht. Aber, was ich weiß, ist, dass er in einer, wie sagt man, Zweierwohngemeinschaft in der Mainzer Neustadt, genauer gesagt in der Josefstraße, wohnte.«
»Das ist bei mir in der Nähe«, sagte Beck erstaunt. »Eigentlich nur ein paar Häuser weiter.«
»Sehen Sie! Dann gehen Sie doch gleich vorbei und informieren sich einfach einmal. Alles andere wird sich sicher schon ergeben.« (...)
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