Montag, 31. Oktober 2011

Phantasie


»Und was ist mit den Hungernden am Horn von Afrika? Berühren sie dich nicht?«, fragte er und wartete auf eine Antwort.
Sie aber gab ihm noch nicht einmal durch ein Wimpernzucken zu verstehen, dass sie seine Frage auch nur gehört, geschweige denn verstanden hatte.

Er wollte noch etwas hinzufügen. Doch dann begann sie auf dem Bett zu wippen, als säße sie auf einem Schaukelpferd. Sie wippte ein paar Mal vor und zurück, so heftig, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug. Dann lachte sie los.
»Hast du dir weh getan?«, fragte er besorgt, obwohl sie lachte.
»Nein, nein!«, sagte sie. »Woher denn? - Du hast zu viel Phantasie.«
»Wieso Phantasie?«
Ihre Hand streifte an seinem Oberschenkel entlang. »Naja, man muss eine starke Einbildungskraft haben, um Mitleid empfinden zu können.« Sie berührte seinen Nacken und schmiegte sich an ihn, um seinen Atem zu spüren. »Vielleicht gilt das ja auch für die Liebe?«

Freitag, 28. Oktober 2011

Opfer


»Wer einen Menschen tötet«, sagte der alte Mann, »der tötet einen Menschen. Doch wer sich selbst tötet, der tötet alle Menschen.« Der alte Mann beugte den Kopf und bedeckte müde seine Augen mit der Hand. Für eine lange Weile blieb er so stehen, und sie wagte nicht, ihn zu stören. Dann seufzte er und schüttelte sich, als wolle er eine große Müdigkeit abstreifen. »Und was den Selbstmörder angeht«, fuhr er fort und schenkte sich ein ganzes Glas Vodka nach, den er in einem Zug hinunterstürzte, »so löscht er die ganze Welt aus.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich wollte das nicht. Ich hatte ja jemanden zum Reden.« Dann nahm er die ganze Flasche und setzte sie an. »Der Vodka hört mir immer zu«, sagte er.
Sie wusste, dass er das manchmal brauchte, auf diese Weise ließ er die Toten hinter sich, die in Lidice in die frische schwarze Erde gesenkt worden waren.
»Warum«, fragte sie, während sie das Bettlaken glatt strich, »ist es für einen Überlebenden so entsetzlich, nicht angehört zu werden?«
»Ganz einfach«, antwortete der alte Mann. Er blickte sie an, und seine hohe Stirn verlieh ihm den Ausdruck von Nachdenklichkeit. »Als ich ein kleiner Junge war,« sagte er, »gab mein Vater jedes Mal, wenn er von seiner Arbeit im Stollen nach Hause kam, vor, mich nicht zu sehen. Für ihn war das eine Art Spiel, aber für mich eine Folter. Weil er sehr viel länger auf meiner Unsichtbarkeit beharrte, als ich es ertragen konnte. Nicht gesehen zu werden, bedeutete für mich, nicht zu existieren, ausgelöscht zu sein. Und dementsprechend bedeutet, nicht gehört zu werden, zu einem Opfer geworden sein, das für die anderen nicht existiert.« Er schlug die Augen nieder und versank in finsterem Schweigen.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Sehnsucht

Zu diesem Zeitpunkt war sie schon süchtig gewesen nach ihm. – Nein, man wacht nicht eines Morgens auf und beschließt, von nun an ein Leben als Süchtiger zu führen. Man wacht auch nicht auf und fällt Entscheidungen. Man wacht eines Morgens auf und hat Entzugserscheinungen, erst sehr viel später weiß man, dass man süchtig ist. –Sehnsucht ist die Sucht nach Überwindung von Zeit und Raum. Und sie konnte es kaum erwarten, beides zu überwinden, um ständig bei ihm zu sein. 

Mittwoch, 26. Oktober 2011

boshaftes Schicksal

»Das Schicksal ist auch auf eine andere Weise sehr boshaft«, sagte der alte Mann und schob seine Mütze aus der Stirn, sodass vier dicke, fette Furchen zum Vorschein kamen. »Ich muss das wissen.« Er presste die Lippen zusammen, als ob er das zu Äußernde noch unterdrücken wollte, öffnete dann aber den Mund und sagte schließlich: »Das Schicksal lässt uns immer erst ein paar Jahre später merken, wie komisch wir in bestimmten Momenten waren.« Wieder schwieg er eine Weile und sah mich mit seinen kleinen bernsteinfarbenen Augen eindringlich an. »Mir fallen jetzt viele Momente ein. Allein der Augenblick, bevor ich meine Frau zum ersten Mal küsste, ist so komisch, dass ich mich noch heute frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte.«
Sie wollte ihn fragen, was denn daran so komisch gewesen war, doch da war er schon wieder in seiner Geschichtslosigkeit verschwunden.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Reifeln

»Weinfässer“, lallte der dickere der beiden alten, besoffenen Küfermeister, die aus dem Wirtshaus „Zum Bären“ getorkelt kamen, „platzen, wenn man…“ Er hielt einen Moment inne, suchte Halt an der großen Pferdetränke vor dem Wirtshaus, spreizte ein wenig die Beine und ließ krachend einen Wind fahren. »…wenn man nicht von Zeit zu Zeit den Deckel öffnet und die Luft herauslässt!«
»Wem sagst du das!«, gab ihm der andere, ein Glatzkopf, unüberhörbar rülpsend zurück. »Sonst gerät das Fass außer Rand und Band und wir… wir müssen’s wieder reifeln!«
„Genau!“, pflichtete ihm der dickere bei und machte eine Bewegung auf ihn zu. Er schlingerte und bekam gerade noch ein Zipfel von dessen Wams zu greifen, sonst wäre er in den stinkenden Stadtbach geschlittert; ein Rinnsal, in das nach Belieben alles geschüttete und geworfen wurde, was man auf den Straßen und in die Häusern nicht dulden wollte. »Man muss den Unflat von sich treiben«, fuhr er unbeirrt fort. »Sollt’ man wegen eines Fürzleins krank werden?« Bekräftigend klopfte er seinem Saufkumpanen auf die Schulter. »Nein! – Da ist es doch besser diesen Dampf herauszulassen, als lange beim Doktor zu liegen! – Selbst die Ärzte sagen nur gute Dinge über den Furz, mein Freund!« Er verstummte für eine Weile und starrte seinen Gefährten mit glasigen Augen an. »Zwinge nie die Hinterbacken, den Lärm bei sich zu behalten. Gleich hast du Bauchgrimmen und Magenkrämpfe, Schwindel und die langsame Wassersucht.«
»Jawohl!«, entgegnete der Glatzkopf. »Lass fahren, was keine Lust zu bleiben hat!«
»Ja, lass fahren!«
Schweigend lagen sie sich in den Armen und blickten in den sternenklaren Himmel. Nach einer Weile setzten sie ihre Unterhaltung ein wenig bekümmert fort: Früher, sagten sie, ja früher sei alles sehr viel besser gewesen. Da hätte einjeder auf seine Fässer und besonders die Weinfässer geachtet und die gärende Luft nicht weniger als zweimal die Wochen aus ihnen herausgelassen. Aber heutzutage… Wie viel unnötige Arbeit hätten sie heutzutage mit zerborstenen Weinfässern, weil sich niemand mehr die Mühe mache, nach diesen zu sehen, wenn es in ihnen rumore und brodele. Wie bei den Fässern, so bei den Menschen, weiteten sie das unerschöpfliche Thema aus. Der innerliche Druck mache das Leben unmöglich, gäbe es da kein Gleichgewicht zwischen der von außen kommenden und der im Körper enthaltenen Luft, ein heikles Gleichgewicht, das beim Menschen durch Rülpser und Fürze, aber auch durch das Atmen, und bei Fässern durch Entlüftung beständig aufrechterhalten werden müsse. - Genauso sei es auch beim Gemeinwesen: Ab und zu müsse man auch da den Deckel auftun und die schlechte Luft herauslassen.
»Sonst gerät alles außer Rand und Band«, bekräftigte der Glatzköpfige.
»Und der himmlische Küfer dort droben«, ergänzte der Dicke tiefsinnig und zeigte in den Himmel, »muss dann alles wieder reifeln!«
»Jawohl! – Die Reifen immer schön feste anziehen und verschieben, damit alles seine gebührende Form und Festigkeit behält!« Fast regungslos stand der Glatzköpfige da, die gespreizten Beine mit letzter Anstrengung in den Boden gepflockt und starrte in den Himmel. »Wie hier unten, so da droben!«, verkündete er würdevoll. Leicht nur wippte sein Oberkörper.

Montag, 24. Oktober 2011

Rasierklinge

»Warum verlässt du ihn nicht? Warum lässt du es immer wieder zu, dass dieses Arschloch dir weh tut? Das ist gerade mal so, als würde man eine Rasierklinge lieben, die einem die Kehle durchschneidet, weil das nun einmal ihr Wesen ist.« Sie schüttelte sich...


Donnerstag, 20. Oktober 2011

Verlässliche Ratschläge


»Wir reden von zwei verschiedenen Dingen«, sagte er und schob sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
»Lass mich in Ruhe«, zischte sie. Ihr Blick wurde kühl und undurchdringlich. »Ich kann mir nicht helfen.« Sie beugte den Kopf und bedeckte müde ihre Augen mit der Hand. Für eine Weile blieb sie so stehen.
»Doch das kannst du.«
»Nein, wie oft soll ich es dir noch erklären. Ich kann es nicht. Verständig, klug, ja weise, wenn du so willst, bin ich nur in solchen Dingen, die andere Menschen angehen, aber nicht mich selbst«
»Und was ist mit deinen guten und verlässlichen Ratschlägen?«
»Meine guten und verlässlichen Ratschläge«, wiederholte sie spöttisch und schaute zur Decke empor, auf der eine düstere Fliege hin und her irrte. »Gelten nicht für mich. Kapier das doch endlich. - Es ist wie bei einem dieser leidigen, aufgeplusterten Coachs, die überall wie Pilze aus dem Boden sprießen, weil sie jeder zu brauchen scheint. Lass ihn in einer schwierige Situation geraten, und mit einem Schlag wird dieser vermeintlich lebenskluge Mann ganz klein und hässlich. Er hat sich in einen kläglichen Schwächling, in ein hilfloses Kind oder, wie du sagen würdest, in einen Waschlappen verwandelt.«

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Kitschmensch


»Ich will dich nicht täuschen«, wiederholte er freundlich, um sie nicht zu verletzen und strich ihr durch das Haar. »Ich fühle für dich nicht das Gleiche wie du für mich. Es ist besser, dass ich es dir sagen, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort, ja hörte ihm noch nicht einmal zu, sie dachte an die Bankenpleite, von der er gerade noch gesprochen hatte, an den Dominoeffekt und die kommende Wirtschaftskrise. Im Grunde genommen war das keine üble Sache; es bedeutete, endlich die allem Leben wesentliche Unsicherheit zu spüren, die zugleich lust- und schmerzvolle Unruhe, die jede Minute in sich barg. Es hieß, ganz im Augenblick, statt in der Zukunft zu leben. Gewöhnlich schrak sie vor einem solchen Gedanken zurück, aber jetzt war sie es satt, sich in Sicherheit zu wiegen, sich für die tiefe Spannung ihres Schicksals unempfindlich zu machen, indem sie sich der Gewohnheit, der Illusion von Geborgenheit und anderen Betäubungsmitteln hingab, aber sie wollte endlich leben. Sie wollte sich keine Illusionen mehr machen, die jedes Wagnis, alles Neue unterbanden. Sie wollte keiner Selbsttäuschung mehr erliegen und jede Form von Begeisterung als Verblendung abtun. Je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass ein Optimist zwar häufig Niederlagen entgegenging, in der Welt aber viel mehr in Gang brachte, als ein Pessimist und ein ewig gemäßigter Mensch wie sie einer war, die jedes Risiko, jedes unbezahlte Engagement für eine gute Sache für eine Schwäche oder eine Dummheit hielt.
»Ich fühle für dich nicht das Gleiche wie du für mich«, wiederholte er nochmals, aber so eindringlich, dass er sie dieses Mal aus den Gedanken riss.
»Na und«, sagte sie, ohne dass ihr Tränen in die Augen traten. »Was ist denn schon dabei. - No risk no fun

Dienstag, 18. Oktober 2011

Wäschelektüre


Die kleine Maria setzte diese Art der Lektüre in der alltäglichen Schmutzwäsche ihrer Auftraggeber fort. Der Klatsch der alten Waschweiber half ihr dabei. Als wahre Romane erwiesen sich die leinenen Laken, in denen sich Nacht für Nacht die feinen Bürgersleute wälzten und so ganz nebenbei , ohne es zu wollen,  geheime Zeichen hinterließen. Wie in einem Buch vergrub sie sich  darin, trug die unterschiedlichsten Flecken und Spritzer zusammen und erschloss sich aus ihren Farben und Formen ein Geflecht aus ebenso geheimen Verbindungen: Aus den Flecken buchstabierte sie bald Worte, mit den Worten bildete sie Sätze, aus den Sätzen Geschichten und aus den Geschichten schließlich die wahrhaftige Chronik der Stadt. Am verräterischsten war die Leibwäsche.  Diese  trächtige Tracht, die eigentlich als Schirm der Nacktheit gedacht war, enthüllte in Wahrheit das unverstellten Wesen ihrer Besitzer. Denn die Spuren des Lebens waren hier besonders dicht gedrängt.
Während sie in der Wäsche las, erspürte sie die reifenden, platzenden Leiber, sah den milchigen Sieg des Verführers und das feuchtwarme Blut seines heimlichen Duells. – Ein wahrer Blutregen ging im heißen Mai auf die Bettlaken des Städtchens nieder. – Maria bemerkte oft wie das monatliche Blut ausblieb und erkannte wenig später die ranzig geronnene Milch. Sie roch den Ziegengestank einsamer Achselhöhlen, den Schweiß der Qual, der Angst und des Fiebers. Sie folgte dem Sog der Gerüche und erkannte die Vorzeichen des körperlichen Verfalls. 

Montag, 17. Oktober 2011

Der Wissende

„Es ist keine neue Erkenntnis“, sagte der Physikus, „dass der Wissende sich dem Unwissenden anzupassen hat. Da es umgekehrt nicht geht.“ Er machte eine Pause und blickte sie eindringlich an.
Sie fühlte sich trotz des Aderlasses immer noch seltsam, als wäre sie inwendig hohl und ihr Körper nur Haut und Knochen, ein aufgeblasener Ballon, den man mit einer feinen Nadel zum Platzen bringen konnte. Hinzu kam ein unerklärliches Kribbeln, fast so, als verspüre sie krabbelnde Ameisen direkt unter der Haut, manchmal auch ein Pochen in einzelnen Körperteilen, besonders in den Gliedmaßen, das mit unangenehmen und ebenso unerklärlichen Stichen und einer Hitze einherging, die von den Füßen zum Kopf hochstieg und vom Kopf zu den Füßen ging. 

Freitag, 14. Oktober 2011

Charme einer Frau


Der harte, eigenartige Ausdruck ihrer Augen beeindruckten ihn. Er senkte den Kopf, als forderte ein tiefer Gedanke ganz plötzlich seine ganze Konzentration, während ihm ein säuerlich stechender Geruch, wie von sehr reifen Früchte in die Nase stieg. »Der Charme einer Frau«, begann er ohne Hast und sein kleiner Adamsapfel bewegte sich langsam auf und nieder,  »liegt in den Dingen, die man nicht auf den ersten Blick gewahrt. Gewiss haben die anderen, die offen zur Schau getragenen, auch ihren Wert und Wirkung. Aber kein Perlengehänge, keine plakative Mundbemalung, keine noch so hoch getürmte Frisur hat den tiefen unergründlichen Reiz eines nicht nachweisbaren Dufts, eines dezenten Lidstrichs, einer unbeabsichtigten Nachlässigkeit, die man zunächst gar nicht zu sehen meint, wie etwa der leicht verrutschte Träger eines Kleides.« Er nickte, um zu bekräftigen, dass er die Wahrheit sagte, seine Wahrheit, die ihn zu ihr geführt hatte. 

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Wassersucht

Gewiss bei ihrem Bauch konnte man fast meinen, dass sie mit einem Kind ginge. Ihr ganzer Leib hatte sich verändert: die Brüste waren angeschwollen und deren Warzen röter geworden. Sie hatte nicht mehr denselben leichten Gang und musste sich öfter hinsetzen. Man konnte es gewahren, wenn man wollte. Schließlich war sie stets unterwegs, ging täglich zum Markt, holte Wasser, arbeitete im Wirtshaus und manchmal im Feld, sammelte Holz, schnitt Gras und saß zum Mindesten dreimal die Woche in der Kirche. Auch spürte sie jeden Morgen ein Würgen im Hals. Sie neigte mehr zum Aufbrausen und war verdrießlicher als sonst. Aber sie spürte nichts in ihrem Bauch, außer, dass er sich bisweilen aufblähte wie ein Schwamm voller Wasser, um gleich darauf wieder zu vergehen. Anfangs zweifelte sie am Vorhandensein der zarten, aber beunruhigenden Regungen, die sie von außen heimzusuchen und wie plötzliche Lichtstrahlen zu durchfahren schienen, als ob sie nicht den Mut gehabt hätte, sich ihr Unbehagen zu erklären, dass da etwas in ihr schlummerte, dass sich etwas ansammelte, das irgendwann hervorbrechen würde. Sie sah einfach darüber hinweg und legte sich schließlich eine Erklärung zurecht, als sie bemerkte, dass ihre monatliche Reinigung ausgeblieben war. Gewiss ihre Blutungen verhielten sich mehrenteils sehr unordentlich, nicht wie bei anderen Weibern, bei denen – wie beim Mond – eine wechselseitige Beziehung mit der Zeit bestand. Daher nannte man sie ja auch die Regel – oder Mondblut. Bei Aufregung etwa setzten sie mitunter mehrere Wochen aus, oder wenn sie Most getrunken, eine Kernsuppe gegessen oder zu heftig getanzt hatte. Dann empfand sie ihren Leib morgens dünn, abends aber hart und dick. Die Härte ihres Leibes war dieses Mal aber geblieben. Dies rührte, wie sie anfangs glaubte, von einer Verstopfung des Geblüts. Das monatliche Blut war demnach in ihre Brüste und ihren Unterleib gezogen, statt auf natürlichem Wege ausgeführt zu werden, und hatte dort Geschwülste gebildet, die ihres Dafürhaltens nach, bald aber wieder hätten vergehen sollen. Das waren sie aber nicht.
Daher war sie, zwei Wochen bevor die Nachbarsweiber auf ihrer Türschwelle erschienen waren, Anton Kempe, den Barbier, dem man die Heilgabe nachsagte, um Rat und Hilfe angegangen. Das ganze Volk lief zu ihm.
Der große, hagere Mann mit den himmelblauen wachen Augen strich mehrmals über ihren Bauch, nachdem er seine Hand mit seinem eigenen Speichel benetzt hatte. Er dachte lange hin und her und unterzog sie einem Aderlass.
„Es ist die Wassersucht, die dich quält“, sagte er, „eine üble Krankheit, die die Eingeweide befällt und den Bauch und manchmal auch die Arme und Beine anschwellen lässt. Der Magen ist dann voller faulem Schleim, der ausgeführt werden muss, weil er sich sonst wie die schlechten Säfte und übelriechenden Dünste eines Dunghaufens überall ausbreitet und den ganze Leib mit Gestank verdirbt.“
Er gab ihr einen Schwitztrank von Wein und Safran, um das Geblüt wieder in Gang zu bringen. Es kam aber nicht wieder in Gang. Stattdessen wand und krümmte sie sich am folgenden Morgen, aß drei Bissen und spuckte sie wieder aus und bekam zuletzt überhaupt nichts mehr hinunter.
Sterbensübel ging sie daraufhin zum Wundarzt. Der setzte seine Augengläser ab, klopfte mehrmals fest hintereinander gegen ihren Bauch und horchte, ob dessen Klang dem einer Trommel glich.
„Es ist eine Krankheit im Bauchraum“, sagte er, als ob sie das noch nicht gewusst hätte. Die Wassersucht habe bei ihr angesetzt, erklärte auch er. Sie äußere sich in Schwellungen des Bauches, der Gliedmaßen wie auch der Brüste. Sicher habe sie rohe oder ungekochte oder noch nicht ganz gare Speisen zu sich genommen, die zudem vielleicht übermäßig fettig oder saftlos gewesen seien. Er erzählte etwas von der Galle und der Milz und dem Magen, der an der Innenfläche gerunzelt und aufgeraut sei, damit er die Speisen festhalten könne, wie auch der Maurer seine Steine aufraue, damit sie den Mörtel annehmen und festhalten können, damit er nicht zerfließe oder abbröckele, was sie aber alles nicht recht verstand.
Zwischen all seinen Pulvern, Latwergen, Kräutern, Wurzeln, seinen Näpfchen, Schächtelchen, Destillierkolben, Glocken, Kesselchen und ähnlichem Zeug, das er auf einem wurmstichigen Regal aufbewahrte, kramte er von ganz hinten eine alte Flasche ohne Aufschrift hervor, die bis zum Rande mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war.
„Dieses Nachtlaxier“, sagte er und schüttet etwas davon in einen Becher, den er Anna anschließend übergab, „führt alle Unreinigkeiten des Magens und der Gedärme ab. Nimm es zu Nacht vor dem Schlafengehen in einem Löffel voll Wein oder Bier.“
Sie tat, wie ihr geheißen wurde, drei Mal, wachte aber in der jeweiligen Nacht regelmäßig mit heftigem Bauchgrimmen auf.
Schließlich wandte sie sich an den städtischen Henker, zwei Tage bevor die Weiber bei ihr aufgetaucht waren, obwohl ihr der Gang zu dem windschiefen Häuschen am Weißenturm nicht einfach gefallen war. Besonders die Aussicht, dass seine rächenden Hände sie vielleicht berühren könnten, bereitete ihr zusätzliche Übelkeit.
Wie viele seines Gewerbes betätigte sich auch Meister Franz als Heilkundiger und wie der Wundarzt versorgte auch er die Knochenbrüche und Wunden der Speyerer Bürger, obwohl ihm alles Medizinern vom Rat aufs strengstens untersagt war. Durch die Kenntnis der Schmerzen der ihm überantworteten Armen Sünder, hieß es, verfüge er über ein nahezu untrügliches Wissen über den menschlichen Leib. Dazu kämen seine geheimen Arzneien, die schon viele Kranke und Gebrechliche zur Heilung und Gesundung verholfen hätten. So sagte man, dass ein Galgenstrick, der durch ihn seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt worden war, um die göttliche Ordnung nach einem Verbrechen wiederherzustellen, Kopfweh und Zahnschmerzen lindere, wenn man ihn um die Schläfe band. Eine ganze besondere Heilwirkung könnten aber auch die Körperteile eines von ihm hingerichteten Armen Sünders entfalten: die Haut eines Gevierteilten helfe gegen die Gicht, das Hirn eines Gehängten gegen den Biss eines tollwütigen Hundes, das Blut eines Enthaupteten gegen die Fallsucht und das Haar von der Scham eines hingerichteten Ehebrechers, in einem Tuch um den Unterleib getragen, gegen die Unfurchtbarkeit. Zu alledem war er in der Urinschau bewandert. Aus dem Kammerwasser könne er neben dem Alter und Geschlecht jedes rätselhafte Leiden seines Besitzers und dessen nächste und entfernte Ursache, sogar dessen Ausgang bestimmen, was Anna letztendlich bewog im Schutze der Dunkelheit mit einem Becher ihres Urins, der zugedeckt bleiben musste, damit der giftige Dunst nicht ausrauchte, zu ihm zu schleichen.
Gott sei Dank, hatte er sie nicht berührt, nur den Becher, den sie anschließend in den Abort geworfen hatte. Den Harn füllte er in ein eigenartiges gläsernes Gefäß, das einem Hufeisen ähnelte. Er hielt es gegen das Licht, drehte es mit prüfendem Blick hin und her und sagte mit ernster Miene: „Das sieht gleichwohl nicht zum Besten aus!“ Und wie die beiden medizinischen Herren zuvor sagte auch er schließlich: „Es ist die Wassersucht.“ Auch er gab ihr ein Heilmittel gegen Entgelt, ein Pulversäckchen, das sie in einen Krug Wein hängen und nach drei Vaterunser trinken solle, was sie zuhause angekommen auch sofort tat, und eine Meerrettichwurzel. Gerieben und löffelweise eingenommen sei sie nützlich gegen die Vergiftung.
Seither war es ihr wirklich besser. In aller Einfalt hatte sie damals gedacht, man könne den Bauch, wenn er weiter anschwelle, unter allerlei seltsamen Zeremonien einfach aufstechen, wie beim Aderlass, um das Wasser wie auch das gestaute Blut herauszulassen. Dann würde sie wohl wieder gesund werden. Keiner der dreien hatte von einer Schwangerschaft gesprochen, ja noch nicht einmal gefragt, ob sie mit einem Mann zu tun gehabt habe, wie es die Nachbarsfrauen taten, als sie stirnrunzelnd ihren dicken Leib betasteten, als hätten sie eine Fährte aufgenommen. Anna hätte es abgeleugnet, wie sie es auch gegenüber den Weibern abgeleugnet hatte, die Beine unter dem Rock zusammengezogen und die Hände zur Faust geballt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. 

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Schwanger

Es herrschte eine eiserne Stille, als sie zum kleinen mit Tüchern verhängten Fenster in die Küche ging, dessen hölzerner Rahmen zum Schutz vor Wind und Kälte notdürftig mit einer milchigen, aber lichtdurchlässigen Schweinsblase überspannt war. Eigentlich brauchte man das im Sommer nicht, zumal in diesem heißen Sommer kein einziger Windzug ging. Die Luft stand schon seit Tagen und fühlte sich klebrig an, zäh wie aufgeweichtes Brot. Aber die Blase bot nun einmal einen guten Schutz vor den unerwünschten Blicken der Nachbarn und anderer Leute, die in letzter Zeit immer häufiger ungebeten, weder rufend noch klopfend, und am helllichten Tag in den Garten eindrangen und in ihr Häuschen hineinzustarren versuchten. Manche wüteten in ihren Gartenbeeten, säten Unkraut und streuten Glas- und Tonscherben hinein, wenn sie nicht zuhause war. Einmal warfen sie sogar den großen Holzstoß hinter dem Haus um und verstreuten die Scheite in der Stadt. Ein anderes Mal hängten sie das Gartentor aus und warfen es in den Speyerbach. Wer das gewesen war, wusste sie nicht.
Junge Burschen vielleicht, die sie zu schikanieren suchten, weil sie als Frau alleine wohnte? Oder die Nachbarsweiber, die nach Pfingsten vor ihrer Haustür erschienen waren, aber nicht wohlwollend und freundlich, wie das sonst stets der Fall gewesen war, wenn sie eine auf der Gasse traf, sondern im Gegenteil in äußerst gereizter Stimmung. Sie benahmen sich so sonderbar, stürzten sich förmlich auf sie, stießen sie zurück ins Haus und hießen sie in der Küche niedersitzen. Ohne Zurückhaltung begannen sie alle Einzelheiten ihrer Kleidung oder ihres dicken Bauches zu begutachten und mit leiser Stimme Bemerkungen zu machen, die sie nicht verstand. Sie ließ sich mustern. Was hätte sie sonst tun sollen? Eine stieß mit dem Ellbogen nach ihrem Bauch und deutete an, dass ein Gespräch sehr hilfreich sein könne, während die anderen von so verschiedenartigen und abseitigen Dingen sprachen, dass sie anfangs gar nicht herausbekam, was sie eigentlich von ihr wollten. Bis sie endlich mit der Sprache herausrückten.
„Es geht die Rede, du seist in anderen Umständen“, sagte die Meierin, deren Garten hinten an den ihren grenzte. Es klang nicht nach einer Frage, sondern vielmehr nach einer Feststellung, die sie derart verlegen machte, dass sie keine zwei vernünftigen Worte zu entgegnen vermochte und dummes Zeug zusammenschwatzte, das dem unsinnigen und unverständlichen Geschwätz der Weiber in nichts nachstand.
Es stünde wunderlich an, erklärte sie ihnen und gehe ihr schlecht, weil ihr eine böse Versammlung des Blutes nicht jedoch eine Schwangerschaft vorliege.
Woraufhin es hieß, sie solle doch gestehen. Sie wäre ja nicht die erste und würde auch nicht die letzte sein.
Aber was hatte sie zu gestehen? Von was sollte sie schwanger sein? Vom Schnee? Vom fließenden Licht, das sie in ihren Träumen durchdrang? Vom Heiligen Geist? Wie die Jungfrau Maria.
„Heilige Jungfrau, bitte für mich!“ 

Dienstag, 11. Oktober 2011

Ein leises Scharren

Es begann mit einem leisen Scharren, dann kam der Lärm von splitterndem Holz und ein Schrei gefolgt von einem nahezu wütenden Quieken, einem lang gezogenen und gepressten Laut, wie ihn ein Schwein von sich gibt, wenn ihm das Schlachtermesser die Kehle durchbohrt. Doch statt wie Hundegebell sogleich in der Dunkelheit zu vergehen, schwoll es an und vibrierte in der Luft. Es dauerte nicht allzu lange, dann war es wieder still.
Sie glaubte schon sich verhört zu haben, was bei ihrer Anspannung und ihrem Schlafmangel kein Wunder war, und drehte sich, die Oberschenkel eng an die Brust gepresst, auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, als es erneut einsetzte. Es schwoll an und ebbte ab, schwoll an und ebbte ab, und schien jedes Mal kein Ende zu finden, auch nicht, als das Schwein längst ausgeblutet und gevierteilt an irgendeinem Balken in der Nachbarschaft hätte hängen müssen. Wer aber schlachtete mitten in der Nacht ein Schwein? Sie riss die Augen auf und richtete sich im Bett empor, um den Laut und seinen Sinn zu erfassen. Es kostetet sie etwas Mühe, ihren Körper vom Strohlager zu trennen. Den Kopf hätte sie, ohne ihn vom Kissen zu reißen, niemals in die Höhe gebracht. So müde war sie. Als sie ganz aufrecht saß, den Rücken an die Wand gepresst, damit sie besser hören konnte, war es wieder still. Als ob es darauf gewartet hätte, dass sie sich aus ihrem zusammengerollten Zustand löste. Nur in der Ferne hörte sie einen Hund, der den vollen Mond anbellte und das vertraute Knirschen und Nagen der Mäuse. Es war auch nichts Ungewöhnliches zu sehen, außer dem kleinen Kater, der sie mit gen Himmel gekrümmten Rücken vom Stuhl aus anstarrte, reglos, als wäre er aus Wachs. Sie streckte die Arme nach ihm aus.
„Komm, Kleiner! Es ist nichts,“ flüsterte sie, wie um es sich selbst glauben zu machen. „Es ist nichts.“
Der kleine Kater rührte sich nicht.
„Komm“, wiederholte sie und beugte sich etwas zu ihm. Da sah sie, wie eine kleine Flamme in seinen Augen tanzte. 

Montag, 10. Oktober 2011

Schürzenjäger


Um die klatschnasse Welt, in der die Wäscherinnen über Dinge zu sprechen wagten, die andernorts verboten waren, schienen die braven Biedermänner einen weiten Bogen zu machen. Sobald aber die weißen Wäschestückchen lustig im Wind zu flattern begannen und verführerisch in der Sonne blinkten, strich der ein oder andere von ihnen - rein zufällig, wie er anzugeben pflegten, wenn man ihn entdeckte - um die Wäscheleinen herum. Heimlich erhofften sie sich, die Schürze oder gar die Leibwäsche derjenigen Frauen zu ergattern, die ihre Phantasien beflügelten. Oftmals genügte ihnen die bloßen Berührung der begehrten Stücke, um sich in Wollust zu wiegen. - Das waren die wahren Schürzenjäger. Ungewollt hatten sie diese Bezeichnung aber einer ganz anderen Gattung von Männern abtreten müssen, denen es nicht um die Wäsche ging: Ihr Begehren entzündete sich an den muskulösen und festen Körpern der jungen Mädchen mit den noch zarten aber kräftigen Händen, welche die Wäsche durchwalkten. Unter jenen Männern hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass ledigen Wäscherinnen ohne einen Mann nicht auskämen. In den Sommermonaten, wenn die Mädchen von der anstrengenden Arbeit ihre Oberkörper entblößen mussten, waren die Waschplätze ihr Revier. 

Freitag, 7. Oktober 2011

Englischer Schweiß


 Aus den Poren der Kranken schwemmte der Schweiß unablässig stecknadelkopfgroße Talgpfropfen, die man wegen ihrer schwärzlichen Köpfchen für wurmähnliche Larven hielt und als Mitesser bezeichnete.
Diese kleinen Maden seien unmissverständliche Anzeichen des drohenden körperlichen Zerfalls, sagten die einen. Denn die scharfsinnigen Tierchen könnten jene geheimnisvollen Zeichen von Auflösung und Tod erkennen, die dem menschlichen Blick verborgen blieben. Wenn die Leiber abstürben, behaupteten sie, kämen diese klebrigen und zähen Wesen aus der Tiefe der Eingeweide hervor, um durch die Schweißlöchlein hinauszusteigen. - Das könne man doch auch immer wieder bei verfallenden Häusern oder gar sinkenden Schiffen beobachten, aus denen allerlei Kleingetier wie Ratten, Mäuse und Siebenschläfer floh.
Die anderen wiederum, und das waren die meisten, deuteten die Maden als Zeichen der Genesung, ja sie seien wie Noahs Tauben Vorboten der Errettung. Denn der Böse Feind, der in Gestalt des Gewürms in das Innere der Kranken eingedrungen wäre und von ihnen Besitz ergriffen hätte, würde durch den Schweiß wie durch die Sintflut wieder herausgespült werden. Daher, mahnten sie, müssten die Siechen weiter schwitzen und vor unheilvollen Kräften geschützt werden...

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Labyrinth



Sanders blickte an dem kleinen Mönch herunter. »Das Herz des Weibes, lieber Pater, ist ein ausgeklügeltes Labyrinth, welches den engstirnigen Geist des Mannes herausfordert. Wenn Ihr eine Frau wirklich besitzen wollt, müsst Ihr denken wie sie und als erstes ihre Seele erobern. - Da helfen keine Predigten und keine Gebete.«

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Abschiedsbrief


»Hat er denn einen Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches hinterlassen?« Beck fragte bei Selbstmorden eigentlich schon lange nicht mehr danach. Man sollte meinen, nichts käme der Wahrheit über einen Selbstmord und einen Selbstmörder näher als die Briefe und Nachrichten, welche dieser hinterlassen hatte, nicht aber Beck. Die Vorstellungen, die man sich davon machte, wie sich der Selbstmörder im Angesicht des Todes fühlen musste und wie er handelte, gingen weit über das hinaus, was er im Moment der Entleibung wirklich getan hatte. Das wusste Beck. Das hatte er jedes Mal erfahren. Die verbreitete Hoffnung, dass die Aufzeichnungen aus den letzten Augenblicken eines Lebens eine tiefe oder gar tragische Sicht böten, teilte er angesichts der so oft, ja fast immer enttäuschten Banalität dieser letzten Mitteilungen nicht. Die meisten Menschen, die sich entschlossen hatten, ihrem Leben ein Ende zu setzten, hatten die Fähigkeit verloren, die Dinge tief oder groß zu empfinden, originelle Überlegungen anzustellen oder die Welt anders als grau in grau zu sehen. Die inneren Vorgänge in Worte zu fassen, war ja schon für tatkräftige und willensstarke Geister schwierig genug. Wie also sollten Menschen, die deprimiert, verwirrt und hoffnungslos waren, die unter Zwängen litten, beredsam sein? Abschiedsbriefe waren für Beck nichts anderes als Postkarten, die man von einer Reise in die Alpen, zu den Katakomben in Rom oder den Pyramiden nach Hause schickte. Man tat es eigentlich nur pro forma, ohne die Großartigkeit der Szenerie oder die Tiefe der Gefühle, die man in solchen Momenten, in solchen Situationen am Werk vermuten könnte, wiederzugeben.