Montag, 28. November 2011

Weiße Lügen

Stolz öffnete er die Tür zu dem Raum, den er Wohnzimmer nannte. »Sophie und ich haben alles minimalistisch gehalten«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung, die nicht zu seinen Worten passen wollte, und schon gar nicht zu den vier, fünf Möbelstücken, die vereinzelt auf einem marmornen Boden herumstanden: ein gläserner Couchtisch, der leicht zu übersehen war, ein riesiges schwarzes Ledersofa und drei dazugehörige Sessel. Keine Bücher, keine Bilder an der Wand, kein Teppich, nichts. Und auch hier dieses blendende Weiß, dem nichts entging, das auf alles wirkte, das es umgab, und dessen Aufgabe es war, zu entblößen und zu reinigen, wie er immer wieder betonte, während er mich an den schnatternden Partygästen vorbeiführte.
Und er hatte Recht! Sein großes, weißes Haus wirkte leer, selbst wenn es voll war, - weil das meiste, das darin stand, nicht hineingehörte und bald wieder daraus entfernt werden würde. Das waren vor allem all diese gut aussehenden Menschen, die er seine Freunde nannte, und was sie bei sich trugen. Nur wenige Dinge wirkten hier am Platz und noch weniger wirkten sie zu Hause. Diejenigen Dinge aber, die am Platz wirkten, die hierher zu gehören schienen, sahen aus, als wären sie vorher präpariert, ja als wären sie bereits von innen heraus gereinigt worden. Das galt auch für Sophie, die mit hübschem leeren Lächeln am Eingang stand und die Gäste mit einem immer vollen Pro-Secco-Glas begrüßte.
»Na, was sagst du?«, fragte er. »Habe ich übertrieben? Die Räume sind sehr direkt und sehr klar angelegt. In ihnen gibt es keine Möglichkeit zur Lüge.«
Ich nickte.
»Weil sie nur das sind, was sie sind.« Er packte mich plötzlich am  Arm. »Und zum Abschluss –«, er machte eine Pause und kniff eins, zwei Mal das linke Auge zu, als wolle er mir zuzwinkern. »Zum krönenden Abschluss zeige ich dir unser Allerheiligstes, wenn du willst, den Ort unserer heißen Liebesnächte.«
»Auch in Weiß?«, fragte ich und ließ es nach Bewunderung klingen.
»Ganz in  Weiß!«, antwortete er immer noch voller Stolz.
»Und darin wahrscheinlich ein Riesenbett. Und sonst nichts?«
»Ja, woher ...«
»Nein«, unterbrach ich ihn und klopfte ihm jovial, fast mitleidig auf die Schulter, »das brauch ich nicht mehr zu sehen.«

Freitag, 25. November 2011

Die Samen der Gedanken


Immer wieder brachte der Wind frische Rauchwolken, und die Leute brachten neue Gerüchte ins Dorf. Dass jetzt endlich alle frei seien, hieß es. Dass es keinen Zehnten mehr gäbe, und überhaupt: keine Oberen.
Doch keiner wunderte sich mehr darüber. Vor kurzer Zeit noch wäre es ein unglaubwürdiges Märchen gewesen, was jetzt Wirklichkeit war. Aber was war schon Verwunderliches daran, wenn Gedanken wahr wurden. Auch Träume und Wünsche konnten wahr werden, warum nicht auch Gedanken. Und was waren Wünsche anderes als Gedanken. Die Seele des Menschen besaß eine verborgene Kraft, die wie im verborgenen Raum der Scheide des Geschlechts die Samen der Gedanken aufnahm, das Empfangene warm hielt und zur Welt brachte. 

Donnerstag, 24. November 2011

Kaltgepresstes Sonnenblumenkerneöl

Beck kaute gerade kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl und zog es durch die Zähne, als das Telefon klingelte.
»Ja!« brummelte er unverständlich in den Hörer.
»Wer spricht da?« hörte er eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung fragen. Er presste die weiße Masse unter die Zunge und legte seinen Kopf leicht zurück. »Wer spricht da?« fragte er zurück, dabei achtete er darauf, dass er nichts von dem weißgekauten Öl verschluckte.
»Sie haben sich zu melden!« forderte ihn die Stimme hart und unfreundlich auf.
»Sie haben angerufen. Sie haben sich zu melden!« gab er verärgert zurück. Das Öl lief ihm am rechten Mundwinkel hinab. »Sie stören meine Intimsphäre!«
»Mein Gott!« stieß die Frau spöttisch hervor. »Sie haben eine Intimsphäre? – Das tut mir aber Leid!« Mit einem lauten Krachen legte sie auf.
Er schluckte wütend. Viel zu viel Sonnenblumenkernöl schluckte er hinunter, und wurde noch wütender.
Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen nahm er auf nüchternen Magen einen Esslöffel davon, kaute es und gurgelte damit. Zwanzig Minuten lang. Dabei durfte ihn niemand stören. Wirklich niemand! Auch nicht seine Lebensabschnittsgefährtin, wie er seine jeweilige Freundin abfällig nannte, falls er gerade eine hatte. Und es waren nicht viele gewesen, seitdem er vor zehn Jahren mit dem Ölkauen angefangen hatte. Genauer gesagt, drei an der Zahl. Jede von ihnen hatte allmorgendlich mehr als zwanzig Minuten warten müssen, bis er fertig gekaut, den Mund ausgespült und die Zähne geputzt hatte, bevor sie ihn hatte ansprechen können. Vom Frühstücken ganz zu schweigen. Zwanzig Minuten am Morgen aber waren, bei aller Liebe, wenn es denn Liebe gewesen war, was sie zusammengebracht hatte, auf die Dauer einfach zu viel, als dass man sie mit genervtem Warten hätte vergeuden können. Mit drei Minuten. Ja, damit konnte eine Frau leben. Aber gleich zwanzig? Jeden Tag. Und das in einer Einzimmerwohnung. Wie viele Morgenträume hätte sie noch haben können, anstatt von einem schmatzenden und Öl gurgelnden Frühaufsteher geweckt zu werden?
Die erste, Helga hieß sie, hatte die Prozedur dreiundzwanzigmal über sich ergehen lassen, dann war sie ausgerissen. Sieben Stunden und vierzig Minuten, hatte sie vorher überschlagen, hatte er ihr so gestohlen.
Roswitha, der nächsten, hatte er einen ganzen Tag gestohlen. Genau zwei Monate und elf Tage hatte ihre Liebe gedauert, bis ihr der Verlust bewusst geworden war. Danach hatte er sie nicht mehr halten können. »Du hast mir einen ganzen Tag meines Lebens geraubt!« hatte sie ihm im engen und muffigen, nach Ratten, Tauben und Schabenvertilgungsmittel stinkenden Treppenhaus in den fünften Stock hinauf geschrieen. Dabei hatte sie einen Penner umgestoßen, der sich gerade auf der fünfundfünfzigsten Stufe rekelte, weil er Schutz vor dem Regen gesucht hatte. Fünf Stockwerke, hatte sie gedacht, als sie die Haustür hinter sich zufallen hörte. Das sind einhundertundfünf Stufen. Und die hoch- und runtersteigen. Das sind noch einmal mindestens dreieinhalb Minuten. Und das in zweieinhalb Monaten mehr als zweiundsiebzigmal. Bei dem Gedanken hatte es ihr fast zwei weitere Minuten lang vor den Augen geschwindelt ...
Karin schließlich hatte es immerhin auf mehr als drei Monate mit ihm gebracht. Denn gleich nach der ersten Nacht hatte er ihr – noch vor dem Gurgeln – weitsichtig erklärt: Während er Öl kaue, dürfe er auf keinen Fall sprechen, geschweige denn essen. »Kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl«, hatte er ihr dann mit ernster Miene eröffnet, »ist gegen Pickel. Im Mundraum löst es nämlich sämtliche schädlichen Keime und Bakterien auf, die sich über Nacht im Körper angesammelt haben. Es entgiftet ihn sozusagen und wird selbst giftig. Sehr giftig sogar. Deshalb spuck ich es nach jeder Prozedur in diesen Kanister.« Er hatte auf einen großen, rostigen Behälter unter der Spüle gezeigt. »Ich verschließe ihn fest und bringe ihn alle zwei Wochen dienstags zum Schadstoffmobil, an der Massai-Bar, damit es mit anderem Problemabfall und dem toten Kleingetier aus privaten Haushalten entsorgt wird.« Um dem Gesagten Bedeutung zu verleihen, hatte er eine Weile geschwiegen und dann mit noch ernsterer Miene hinzugefügt: »Und wenn ich beim Ölkauen spreche, das siehst du doch ein, könnt ich das giftige Öl verschlucken – Himmel! Wer weiß, was dann geschieht!« Das alles hatte auf Karin zwar irgendwie einen starken Eindruck gemacht, anfangs sogar sehr stark, doch nach mehr als dreißig verlorenen Stunden war auch der stärkste Eindruck verblasst, und nach der dreiunddreißigsten war auch sie weg gewesen.
Keine hatte ihn verstehen wollen. Auch und schon gar nicht diese blöde Ziege am Telefon. Wegen ihr hatte er jetzt dieses giftige Öl verschluckt! Wie ein Derwisch sprang er in der kleinen Wohnung herum und wusste nicht, was er machen sollte.
Ich werde sterben, dachte er, ließ alle Vorsicht fahren und spuckte das restliche Öl in seinem Mund, anstatt in den sicheren Kanister, in die Kloschüssel. Ihm war speiübel. Er steckte den Finger in den Hals. Irgendetwas musste doch noch zu retten sein? Der Würgereiz war da, doch das giftige Öl wollte nicht wieder aus ihm heraus. Er beugte sich über die Kloschüssel. Er kitzelte sein Zäpfchen. Fehlanzeige. Wütend schob er nun alle seine Finger, bis auf den Daumen, in den Hals. Wieder Fehlanzeige. Vielleicht half eine Klobürste? Ein Löffel? Ein Kochlöffel? Genau justiert. Der Deostick hatte die exakte Passform für seinen Mund! Er steckte ihn hinein. Hantierte damit herum, während er sich mit der linken Hand an der Klobrille abzustützen versuchte und auch daran riss. Im Eifer des Gefechts glitt er immer wieder davon ab. Mehrmals wäre er fast mit dem Kinn und dem Stick im Mund daraufgeknallt. Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre! Die ganzen teuren Kronen! Das neue Implantat. Es reichte schon, dass er bei diesem mühsamen Verfahren den Klosettsitz demolierte. Dann endlich kam es: eine ätzende Brühe aus Galle und Schleim. Er würgte. Er würgte fast den Magen selbst heraus. Aber dann kam nichts mehr, nur der Brechreiz dauerte noch an; der Magen krampfte sich immer noch schmerzhaft zusammen. Er richtete sich auf und inspizierte die Flüssigkeit in der Kloschüssel. Ob das giftige Öl dabei war, konnte er nicht feststellen. Schnell drückte er auf die Wasserspülung, damit das Gift weggespült wurde. Schnell ging er auch zur Dusche, um den Mund mit dem Brausekopf zu entseuchen. Er spülte ihn aus. Mehrmals. Erst mit Leitungs-, dann mit Mundwasser. Er putzte sich die Zähne. Hektisch. Bis das Zahnfleisch blutete. Spülte den Mund wieder aus. Setzte sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass etwas passierte. Eine ganze Kanne Kamillentee trank er, während er wartete, dabei zappelte er auf seinem Stuhl unruhig wie ein Suppenkasper hin und her. Ich werde sterben, dachte er immer wieder. Gleich werde ich sterben! – Doch er starb nicht. Nicht nach der ersten, nicht nach der zweiten und nicht nach der dritten Kanne Kamillentee. Auch nicht, nachdem er zehnmal aufs Klo gerannt war.
Wenn die Gifte jetzt noch nicht ausgespült worden sind, mutmaßte er nach eineinhalb Stunden, sind sie schon ins Gewebe und in den Körper übergegangen. Dann hilft nur noch kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl, folgerte er lächelnd. Siegessicher nahm er wieder einen Esslöffel dieses kostbaren Öls und begann zu kauen. Eine Stunde lang würde er kauen, nahm er sich vor.
Plötzlich klingelte das Telefon. Er stöhnte, dabei achtete er darauf, nichts zu verschlucken. Schon wieder, dachte er. Soll es doch klingeln. Ich werde nicht drangehen. Wer weiß, was dann passiert?
Und er ließ es klingeln. Fast eine halbe Stunde lang ließ er es klingeln, mit kurzzeitigen, aber für ihn unerheblichen Unterbrechungen, bis er völlig entnervt mit dem Öl im Mund den Hörer abnahm und ein undeutliches »Ja« hineinblubberte.
»Beck? Sind Sie das?« Dieses Mal vernahm er eine Männerstimme.
»Ja!« wiederholte er deutlich und verschluckte etwas Öl. Er war nervös. Er hatte schweißkalte Hände und rote Flecken im Gesicht.
»Ist alles in Ordnung?« Die Stimme klang sanft in seinem Ohr. »Was haben Sie denn?«
»Nichts!« presste Beck heraus. »Einen Moment!« Er legte den Hörer zur Seite, stürmte ins Badezimmer, beugte sich über die Toilettenschüssel und spuckte das gesamte Öl hinein. Kurz nur spülte er den Mund aus und ging, ohne die Zähne zu putzen, mit einem schalen Geschmack auf der Zunge wieder zum Telefon zurück.
»Hier bin ich wieder«, sagte er etwas säuerlich.
»Ja, lieber Herr Beck, was machen Sie denn?«
Beck gab keine Antwort. Er versuchte, so wenig wie möglich zu sprechen und erst recht nicht zu schlucken. Schließlich mussten noch Reste des giftigen Öls in seinem Mund sein.
»Komme ich ungelegen?« fragte die Stimme beunruhigt. War Beck doch sonst so entgegenkommend, so freundlich und redselig, ja geradezu aufdringlich. Er fragte immer nach dem werten Befinden und ließ nicht eher locker, als bis alle Geschehnisse, gar alle Gefühlsschwankungen der letzten Tage aufgeführt und erörtert waren. Aber heute Morgen war er so zurückhaltend, so ...
»Nein«, log Beck wenig überzeugend.
»Sie sind heute so wortkarg, mein lieber Herr Beck«, versuchte der Anrufer Becks seltsamem Gebaren auf die Spur zu kommen und fügte halb scherzhaft hinzu: »Wortkargheit schadet Ihrem Berufsstand!«
Doch Beck schwieg weiterhin und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Nun gut«, schien der Anrufer nachzugeben. »Ich mache es kurz. Ich habe einen Auftrag für Sie.« Er wartete auf eine Reaktion.
Beck rührte sich nicht, wagte kaum zu atmen. Starr stand er, den Hörer in der Hand, im winzigen Flur und zerbrach sich den Kopf darüber, ob er das Telefonat, ohne noch irgend etwas zu entgegnen, jemals hinter sich bringen könnte oder ob er den Hörer kurzerhand auflegen und später, wenn sie sich treffen würden, erklären sollte, dass er, warum auch immer, nicht habe telefonieren können, oder, um allem künftigen Ärger entgegenzutreten, ob er ihn dann einfach belügen sollte, dass ihm der Hörer aus der Hand geglitten sei. Auf keinen Fall würde er sagen können, dass er gerade Sonnenblumenkernöl im Mund gehabt hätte. Wie würde er dann dastehen?
»Einen delikaten Auftrag!« fügte der Anrufer nach einer Weile gewichtig hinzu, um dann gottlob ohne Pause fortzufahren. »Es handelt sich um einen Freitod. Ein Student. Seine Eltern, sie leben in Brasilien, haben mich telefonisch mit der Bestattung betraut. Sie soll übermorgen stattfinden. Und Sie ... Sie sollen die Trauerrede halten. – Schaffen Sie das?«
Beck nickte zustimmend, obwohl ihn Kiefer, der Inhaber des Bestattungsinstituts am Schillerplatz, am anderen Ende der Leitung nicht sehen konnte. Natürlich schaffte er das. Schließlich war er professioneller Grabredner. Der einzige in der Stadt. Trauerbegleiter, wie man seit neuestem dazu sagte. Seit nunmehr zehn Jahren war er das. Seitdem er mit dem Ölkauen angefangen, das Theologiestudium abgebrochen und sein Leben von Grund auf geändert hatte, war er das. In jeder nur erdenklichen Form hatte er das Leben der Verschiedenen, wie er die Toten beschönigend nannte, gewürdigt, hatte Trauerreden gehalten, auf Wunsch sogar Todesanzeigen verfasst, Kondolenzschreiben, Nachrufe, Gedenkreden und Danksagungen, kurzum alle Texte, die mit dem Tod zu tun hatten. – Wenn er es nicht schaffte, wer dann?
»Schaffen Sie das?« wiederholte der Anrufer.
Beck versuchte, nicht zu schlucken. »Selbstverständlich!« gab er mit leicht geöffnetem Mund, ohne den Kiefer zu bewegen, zurück.
»Sie haben aber nicht mehr viel Zeit.«
»Ich weiß.«
Philipp Beck brauchte Zeit. Für alles brauchte er Zeit. Viel Zeit. Auch und besonders für seine Trauerreden. Ausgiebig und mit größter Sorgfalt sprach er mit den Hinterbliebenen, ortete die Verhältnisse, ja, stellte regelrechte Nachforschungen über das Leben der Verstorbenen an. Manchmal kamen sie sogar polizeilichen Ermittlungen gleich. Alles wollte er wissen, um eine möglichst gute Rede halten zu können. Er dachte sich in die Toten hinein, um ihren Stärken und Schwächen, ihren Fehlern, Sehnsüchten und unerfüllten Träumen gerecht zu werden, und ehe er sich versah, war er mit ihnen eine eigenartige, fast liebevolle Beziehung eingegangen, kannte sie besser, als manch einer ihrer guten Freunde. Wurde ihm zu einer gelungenen Rede gratuliert, sie waren meist gelungen, und wurde er dann gefragt, wie er die oder den Verstorbenen denn so treffend hätte beschreiben können, er habe sie oder ihn doch gar nicht gekannt, pflegte er bescheiden, aber sibyllinisch zu antworten: »Der Tod ordnet so manche Dinge!« Aber es war nicht nur der Tod, nein, es war auch er, Beck, der die Dinge ordnete. Mit viel Mühe und viel Fleiß. Und Zeit! Viel Zeit.
Nicht schon wieder konnte er eine Trauerrede ablehnen, weil er zu wenig Zeit hatte. Das Bestattungsinstitut am Schillerplatz würde ihn dann nicht mehr engagieren. Nie mehr, das wusste er. – Ein Auftraggeber weniger. – Auch wenn er der einzige Trauerbegleiter in Mainz war. Jenseits des Rheins, in Wiesbaden und Frankfurt gab es genügend wie ihn. Außerdem brauchte er das Geld. Der Webshop, den er seit sieben Jahren nebenbei unterhielt, warf schon lange nicht mehr so viel ab, als dass es für die Miete gereicht hätte. Die Zeit für Engelsfiguren aus dem Internet war einfach vorbei. Zumindest erstand sie kaum jemand mehr bei ihm. Mochten sie auch noch so ausgefallen sein.
»Ich werde es machen!« sagte er entschlossen. Die Ölreste in seinem Mund hatte er vergessen. »Wannnnn«, zog er die Buchstaben in die Länge, um nach einer Formulierung zu suchen, in der das Wort Selbstmord oder Freitod nicht vorkam. Denn eine Grabrede für einen Selbstmörder war eine heikle Angelegenheit, selbst und gerade für Beck, der ein Meister der Euphemismen, ein Schönredner par exellence war. Er musste diese beiden Worte umschiffen. Das erwarteten die Hinterbliebenen von ihm. Er konnte sie doch nicht mit dem schalen Geschmack der Schuldgefühle am Grab stehen lassen. »Wann ist es denn passiert?«
»Keine Ahnung! Man hat ihn am Freitag gefunden.«
»Freitag«, wiederholte Beck, als ob es irgendeine Bedeutung hätte. »Und wie hieß der Verstorbene?«
»Stefan Neubauer.«
»Stefan Neubauer«, wiederholte er. Der Name sagte ihm nichts. »Hat er Verwandte in der Stadt, die ich befragen kann?«
»Nein. Er hat keine Verwandten mehr. Zumindest nach Angabe des Vaters nicht. Das ist neben noch ein paar kleinen Unregelmäßigkeiten, über die ich Ihnen jetzt leider noch nichts Genaues sagen kann, ja das Delikate. Und auch seine Eltern wollen, Gott weiß warum, nicht mehr mit dem Tod ihres Sohnes behelligt werden. Es ist also nicht dienlich, sie in Brasilien anzurufen.« Er schwieg für einen Moment. »Halten Sie doch einfach eine Standardrede. Mehr wird von Ihnen in diesem Fall auch nicht erwartet.«
»Das kann und möchte ich nicht«, erwiderte Beck dickköpfig. »Hatte er denn Freunde?«
»Ich weiß es nicht. Aber, was ich weiß, ist, dass er in einer, wie sagt man, Zweierwohngemeinschaft in der Mainzer Neustadt, genauer gesagt in der Josefstraße, wohnte.«
»Das ist bei mir in der Nähe«, sagte Beck erstaunt. »Eigentlich nur ein paar Häuser weiter.«
»Sehen Sie! Dann gehen Sie doch gleich vorbei und informieren sich einfach einmal. Alles andere wird sich sicher schon ergeben.« (...)
Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 

Mittwoch, 23. November 2011

Parasit


Aber nicht nur ihr Körper hatte sich verändert, - an Bauch und Busen hatte sie zugenommen - sondern auch der Umgang mit ihm, mit ihrer Nacktheit und ihrer körperlichen Ungezwungenheit: Sie zeigte sich kaum mehr auf der Straße, und wenn, dann bedeckte sie sich sorgfältig, ja schirmte sich selbst gegenüber den Blicken nächster Verwandter ab und wandte im gemeinsamen Bett der Schwester den Rücken zu. War das die Liebe, von der alle sprachen?
© Nicola Goedecker
Auch im Inneren hatte sich etwas verändert, tief in ihr drin. Aus ihrer Brust stieg etwas zur Kehle hoch, sie hatte das Verlangen, wild, mit fremder Stimme aufzuschreien. War das auch die Liebe? Diese Frage plagte sie seit einigen Tage und ließ ihr keine Ruhe. Seit jenem unvergesslichen Samstag, als sie mit Friedhelm im Stroh gewesen war, hatte sie recht oft ein ähnliches Gefühl, sie spürte etwas Ungekanntes in sich. Wenn sie beten wollte, vermochte sie es nicht: irgendeine Kraft schnürte ihr die Kehle zu und wollte die Brust mit irrsinnigem Geschrei zerreißen. Zuweilen kam sie sich so leicht vor wie eine Feder, so leicht geworden, als könne sie sich alsbald erheben, davon fliegen und Unheil anrichten.
Ob es wirklich wahr war, was der Herr Geheimrat jeden Sonntag zu seinen Gästen am Mittagstisch sagte, dass der Mensch dem Menschen ein Schmarotzer war? - Ein Parasit, wie er es  sehr zum Ärgernis seiner Gattin auszudrücken pflegte? Wenn es wirklich wahr war, was würde dann jetzt Friedhelm spüren?

Dienstag, 22. November 2011

Tanz

In dem Moment, als jemand die Beleuchtung dämpfte und eine neue Tanzrunde ansagte, spürte Anna eine Hand an ihrem Ellbogen.
»Tanz, mein Kind, tanz«, flüsterte der kleine Mönch, indem er sich um seine eigene Achse drehend von ihr wegbewegte. »Die Musik öffnete die Luftlöcher des Körpers, aus denen dann die bösen Geister ausziehen können.« Er tänzelte gestikulierend wieder auf sie zu, den Kopf nach oben und den Rücken leicht nach hinten gelehnt, setzte Schritt vor Schritt. Dann rief er: »Die Töne sind Luftbewegungen und die Geister luftige Wesen.« Er wirbelte im Saal umher. Das Licht der Fackeln glitt über ihn hinweg. Die kleinen Augen hinter den beiden Fettwülsten seiner Lider öffneten und schlossen sich hektisch.
»Spielt schneller«, rief er zu den Musikanten, »spielt schneller. Denn schnellere Musik ruft schnellere Lufterschütterungen hervor und versetzt die Lebensgeister in schnellere Bewegung.« Speichel klebte auf seinem Mund.
Anna fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog bei seiner Erklärung. Sie starrte ihn an. Dann lachte sie kurz und hart auf, als wollte sie sich gleich über ihn lustig machen. Stattdessen aber zog sie den Mantel aus, warf ihn auf den neben ihr stehenden Stuhl und stürzte tanzend und springend auf ihn zu.

Montag, 21. November 2011

Im-Biss






»Meine Großmutter«, sagte er in einem Ton, als ob er mit diesen Worten etwas ganz anderes ausdrücken wollte, »pflegte in einem solchen Fall immer zu sagen: Du sollst nicht füttern, was dich zerfrisst.« Er sprach mit leichtem Spott, war aber zugleich äußerst erregt, blickte argwöhnisch um sich, kam bei jedem Wort aus dem Konzept, so dass alles zusammen mit seinem hektischen Aussehen und dem seltsam flimmernden und gleichsam ekstatischen Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit an ihn fesselte. 

Freitag, 18. November 2011

Erlösung


Sie hatte bloß darauf gewartet. Als sie die Wohnungstür aufschloss, wusste sie, dass es jetzt geschehen würde. Vielleicht war es sein unbekümmertes Lächeln, die entspannte Haltung seiner Hand. Sie warf einen Blick auf die Garderobe und ging, ohne den Mantel abzulegen, langsam auf ihn zu. Sie sagte nichts. So stand sie da, während das Sonnenlicht durch das Fenster drang und sich auf ihrem versteinerten Gesicht zu sammeln schien.
„Na, du bist ja schon da“, sagte er.
Sie sagte immer noch nichts und ging die Stufen nach oben zum großen Kleiderschrank, um ihren Koffer zu holen. Sie ging langsam Schritt für Schritt. Sie hatte es jetzt nicht mehr eilig. Ungefähr auf halber Höhe hielt sie inne, vielleicht eins, zwei Minuten lang, als hätte jemand ihre Schritte eingefroren. Dann drehte sie sich um. Wie ein Schatten stand sie auf der Treppe und ließ ihre kleinen, harten Augen, die nirgendwo hinblickten, über das Geländer schweifen. Jetzt würde sie ihn wieder fragen, ob er eine andere hätte. Sie suchte nach Worten, überlegte hin und her; und alle die sich ihr auf die Lippen drängten, kamen ihr missverständlich, ja doppelsinnig vor, zu verfänglich, geeignet, um zahllose Möglichkeiten zu befruchten, gerade wie hunderte von Wurzeln aus unbekannten Samen sich entwickeln. Er würde sich wieder aus diesem Wurzelwerk herauswinden.
„Nein“, würde er sagen. „Wo denkst du hin!“ Oder: „Du bist so schrecklich eifersüchtig!“ Oder etwas ganz anderes.
Sie setzte sich auf die Stufen, wie in Zeitlupe, die Arme gestreckt und aufgestützt, nicht um weiter nach Worten zu suchen, nicht um sich Zeit für ihre Rede zu nehmen, sondern um die Bedeutung des Moments zu unterstreichen. Sie saß zu Gericht.
„Ich vertraue dir nicht mehr“, sagte sie und blickte ihm ernst ins Gesicht. „Es ist mir gleich, ob du eine andere hast oder nicht. Ich vertraue dir nicht mehr.“
Sie stand auf, drehte sich um und setzte ihren Weg mit wässrigen Augen fort, ohne auf eine Entgegnung zu warten. „Sich durch die Liebe erlösen zu wollen“, sagte sie noch, mehr zu sich selbst als zu ihm, „oder durch die Liebe erlösen zu wollen, ist einer der fatalen Irrtümer der Menschheit.“ 

Donnerstag, 17. November 2011

Aussehen


»Weißt du, ich bin nicht gern unter Menschen«, sagte er und schwieg. Er starrte sie mit seinen Teleskopaugen erwartungsvoll an. Die dichten Augenbrauen berührten sich fast an der rauen Stelle über seiner krummen Nase.
Sie reagierte aber nicht und dachte an seinen hässlichen purpurfarbenen Penis. Sie sah, wie sich die Muskeln an seinem Kiefer wieder spannten, um jetzt vielleicht die entscheidende Frage zu stellen.
Sie schreckte davor zurück, noch ehe er fortfuhr, und wollte nichts wie weg. »Das Aussehen ist dem Menschen nicht verfügbar«, hörte sie ihre Mutter in ihrer Erinnerung sagen und blieb stehen. »Er kann nichts dafür, dass er so hässlich ist. Er kann wirklich nichts dafür. Auch, wenn du glaubst, er könnte etwas dagegen tun. Durch Sport, eine kosmetische Operation oder was auch immer. Er bleibt so, wie er ist, und empfindet die Ohnmacht, seine eigene Situation nicht verändern zu können, ständig als Demütigung. Und gerade deswegen ist er nichts für dich.«

Mittwoch, 16. November 2011

Kartographie des Schmerzes

»Mit gekreuzten Armen stand Ackermann da. Inmitten all der triumphierenden Gesichter von Professoren und Studenten, in diesem Wirbel von Händeklatschen und Getrampel und Hohngeschrei, in dieser narrenhaften Raserei, deren Mittelpunkt er war, in dieser losgelassenen Schadenfreude – war in ihm Grabesdüsternis. Er war gescheitert. Es war aus. Er konnte weder sein Gesicht im Zaum halten, noch seine Zuhörer, die ihn mit Beleidigungen überschütteten. Er erlebte es, dass seine Bestimmung an einem tollen Ausbruch von Lachen zerbrach. Nur weil er behauptet hatte, das Leben beruhe lediglich auf einem körperlichen, einem materiellen Prinzip. Das war nicht wieder gut zu machen.
Wer gefallen ist, steht wieder auf, aber wer, wie er, zu Staub zermalmt wird, erhebt sich nicht mehr. Das jedenfalls dachte er damals, dachten alle, nachdem man ihn aller akademischer Würden beraubt und aus der wissenschaftlichen Societät ausgeschlossen hatte, – ihn, den großen Ackermann, ein gern gesehener Gast an allen deutschen Höfen, zumindest bevor er diese grandiose Rede, - wie er noch heute fand -  vor der wissenschaftlichen Gemeinde in Berlin gehalten hatte. Zum Glück hatte er nicht aufgegeben.
Er konnte sich noch gut an diesen Frühling anno 1756 erinnern. Es war frühsommerlich warm gewesen, und dieses Nichtstun nach der Suspendierung, von dem er nicht mehr hatte lassen können, hatte ihm gut getan.  Er blühte wieder auf, gewann seine alte Stärke zurück. Gleichzeitig wurde er den Gedanken aber nicht mehr los, dass etwas in ihm schlummerte, dass sich etwas sammelte, das irgendwann hervorbrechen würde. Er dachte oft über die Demütigungen nach, die man ihm zugefügt hatte, aber vor allem an den Schmerz, der langsam abnahm, als sich in ihm die Idee zu einer topographischen Darstellung desselben verfestigte.
In grausamen Versuchen, ja grausam – wie er sich jetzt selbst eingestand – durchleuchtete er daher anstelle von lebenden Menschen systematisch Hasen, Hamster, Mäuse und Ratten, sogar Hunde und Katzen - wenn er sich recht entsann, waren es über die Jahre hunderte von lebenden Tierkörper jeder Art gewesen –, indem er ihre Körperteile, von der Haut über die verschiedenen Organe bis hin zum Knochenmark, mit einem speziellen Skalpell freilegte und dann reizte: mit Nadeln, Zangen, Messern, mit Schwefelsäure, Vitrioöl und Spiegelglasbutter. Was er so ans Licht brachte, war eine imposante Landkarte des Schmerzes, eine Klassifizierung der Gewebe nach dem Maß des Zuckens und Schreiens der ihm ausgelieferten Kreaturen. Die methodischen Einwände seiner Gegenspieler, dass ein Tier mit geöffnetem Brustkorb vom Schmerz so gelähmt sei, dass es auf Reizungen der Herzwand nicht mehr reagieren könne, schob er zur Seite. Er wollte endlich beweisen, dass es kein unkörperliches Prinzip brauche, um das Leben zu erklären, keine Seele, die die Organe in ihrer Bewegung anleite.
Dabei hatte er völlig vergessen, dass es gerade der aus den Verunglimpfungen erwachsene Schmerz gewesen war, der ihn zur Durchführung des Experiments getrieben hatte. Er sah den Splitter im Auge seiner Konkurrenten, aber den Balken in seinen Augen sah er nicht.

Dienstag, 15. November 2011

Metaphysisches Raumspray

Ein metaphysisches Raumspray, das die Luft reinigte. Bei dem Gedanken fiel ihr die Geschichte über eine thüringische Stadt am Ende des 18. Jahrhunderts ein, die ihr der Vater einmal erzählt hatte.
Der Name der Stadt war ihr entfallen. Weil der Besuch des Königs unmittelbar bevorstand, ließ der Bürgermeister die Stadt herrichten. Die Bürger wurden aufgerufen die Häuser und Straßen zu schmücken und auch den Abfall zusammenzukehren.
Das tat man sehr gründlich, viel gründlicher als sonst. Aber da man den ganzen Kehricht nicht vollkommen beseitigt, sondern wie immer einfach in die Rinnsteine befördert hatte, begann sich ein enorm widriger Geruch auszubreiten. Es blieb nicht mehr viel Zeit, um den Unrat auf großen Wagen aus der Stadt zu schaffen, denn in der Ferne hörte man schon die Fanfaren des Königs klingen.
In der Not und der gebotenen Eile schien dem Bürgermeister der geniale Einfall eines Stadtverordneten rasche Abhilfe zu versprechen: Und so wurden alle Gefangenen und Vagabunden sofort aus den städtischen Kerkern herausgelassen und in Reih und Glied an die Gestankstätten befehligt, um sodann den Geruch aufzuriechen.
Doch es war schon zu spät. Die Gefangenen und Vagabunden hatten auf Befehl des Stadtkommandanten gerade damit begonnen, die Nasenflügel rhythmisch im Schlage der Trommeln zu öffnen und zu schließen, als die prächtige Kutsche des Königs in die Stadt gefahren kam.
Der König nickte und winkte den Gefangenen zu, weil er sie für brave Bürgersleute hielt. Erst als er seinen Kopf aus der Karosse reckte und den Gestank wahrnahm, bemerkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Denn hier war es nicht wie in den anderen Städten seines Reiches, wo es nach Braten, allerhand Gebäck und anderen Spezereien roch und wo man ihm im Sonntagssaat und Fähnchen schwenkend zujubelte.
Er ließ die Kutsche anhalten und fragte den Erstbesten, was hier vor sich gehe.
Als dieser ihm erklärte, was es mit dem Aufzug auf sich habe, zog der König sich sein Schnupftuch vor die Nase haltend in die Kutsche zurück und ließ die Gefangenen ihre Arbeit verrichten.
Bald war der Gestank aufgerochen und der König konnte aus seiner Kutsche steigen.
In diesem Moment kamen die Bürger, die sich peinlich berührt in ihren Häusern verkrochen hatten, erlöst und mit lautem Jubelgeschrei auf die Straßen und Plätze gestürmt. Die Freude war groß.
Der König, dem eine solche Ehrerbietung bislang noch nicht zuteil geworden war, verlieh dem Bürgermeister daraufhin einen großen Orden und gewährte den Gefangenen einen Tag Urlaub.
Fortan aber mussten die Gefangenen und Vagabunden an jedem Samstag auf die Straße, um die Verunreinigung der Luft und die giftigen Ausdünstungen der Erde aufzuriechen. – Genauso musste es mit einem metaphysischen Raumspray sein. Es zog die schlechte Luft einfach auf.

aus: © Neumann, Hubert: Lusthängen. Remscheid 2007.
Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 

Montag, 14. November 2011

Einsamkeit


Mathilda schlug die Augen auf. Der Mann, den sie schnaufen gehört hatte, lag immer noch neben ihr. Sofort verließ sie das Bett, ohne sich etwas überzuziehen. Das Gefühl des Erstickens, das die Angst im Moment des Aufwachens in ihr aufsteigen ließ, schob sie zur Seite. Sie öffnete das Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen und ging ins Bad.
Während sie in den Spiegel blickte, dachte sie an den Traum, der sie hatte aufwachen lassen, an den sie sich jetzt aber nicht mehr erinnerte. Es war wie mit dem Kuss vorletzten Freitag nach der Arbeit, der etwas in ihr ausgelöst hatte, was sie in der Nacht wieder hatte wachrufen wollen. Es war ihr aber nicht gelungen, so wie es ihr jetzt nicht gelang, sich an den Traum zu erinnern, der mit diesem Gefühl, das sie wiederzubeleben gesucht hatte, zusammenhing.
Wie kam es, dass man nach dem Erwachen, schon ganz der Wirklichkeit wiedergeben, fast immer die Empfindung hatte, als ließe man mit dem Traum irgendein ungelöstes Rätsel hinter sich? Man lachte über seine Unsinnigkeit, wenn man sich zumindest bruchstückhaft an ihn erinnerte, und fühlte zugleich, dass in der Verkettung dieser Unsinnigkeit irgendein Gedanke oder Gefühl enthalten war, das zu unserem wirklichen Dasein gehörte, etwas das in unserem Herzen lebte und schon immer darin gelebt hatte. Der Traum hatte gleichsam etwas Neues, Prophetisches, aber auch Erwartetes verkündet; der Eindruck war stark; er war freudig oder qualvoll, aber worin er bestand und was einem gesagt worden war, konnte man weder verstehen, noch sich darauf besinnen. Vielleicht war es die unbestimmte Sehnsucht nach wirklicher Verschmelzung, nach der Aufhebung der Einsamkeit, was letzte Nacht nicht gelungen war.

Freitag, 11. November 2011

Erlesen



Wenn ein Mensch von Deinem Temperament ein Buch aufschlägt, liest er darin immer nur seine eigenen Gedanken. Er lernt nichts, was nicht bereits in ihm ist.

Donnerstag, 10. November 2011

Käsekuchen

Vor der Kuchenvitrine bleib er stehen und starrte in gebeugter, geradezu unterwürfiger Haltung hinein. Sie sah wie er mit einer Wirgönnenunsmalwasmiene, die nach Mottenkugeln und Kölnischwasser stank, auf den gammeligen Käsekuchen unter der Plastikglocke deutete. 

»Der sieht gut aus«, hörte sie ihn sagen, und fragte sich, wie das alles zusammenpasste. War er denn blind? Sah er nicht, dass der Kuchen schon hinüber war? Wie vertrug sich diese glibberige Masse mit dem Whiskey, den er gerade bestellt hatte? Und wie waren seine demütige Haltung und sein erwartungsfroher Gesichtsausdruck beim Anblick dieser braunen Pampe zu deuten? Das passte nicht zu dem kernigen Kerl, für den sie ihn hielt, für den sie ihn gehalten hatte. 
Er ist sicher ein Schlappschwanz, dachte sie, der wie all die anderen muskelbepackten Typen beim kleinsten Problem Reißaus nehmen; so ein Lehrertyp, der vorgibt alle seine Schüler zu lieben, in Wahrheit aber nur sich selbst lieben kann. 

Aber vielleicht täuschte sie sich? Und alles war ganz anders. Wie bei Konzerten. Wenn man nicht wüsste, dass die Leute dort wegen der Musik oder den Typen auf der Bühne ausflippten und manchmal sogar zusammenbrachen, wenn man nur die Bilder der verzückten Gesichter sähe, wie bei alten Beatlesfilmen, könnte man leicht meinen, man hätte es mit den Hinterbliebenen einer Katastrophe zu tun, mit lauter schmerzverzerrten Gesichtern, die Trauer und Entsetzen ausdrückten. Keine Handlung, keine Ausdrucksform war eindeutig. Man musste alles im Zusammenhang sehen. Oder man brauchte millimetergenaue Kartographien des menschlichen Körpers, besonders des Gesichts und seiner Muskulatur, um Unterschiede zwischen den einzelnen Ausdrucksformen feststellen zu können. Das aber war für sie zu mühsam. Das würde sie zu viel Zeit kosten und Nerven. 

Sie stand auf, packte ihre kleine rosa Tasche, ihren Mantel, blickte schnell nach rechts und nach links, rief ihm »Ich geh mal für kleine Mädchen« entgegen und verschwand auf der Treppe, die sie um Hinterausgang führte.


aus: © Neumann, Hubert: Lusthängen. Remscheid 2007.
Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 

Mittwoch, 9. November 2011

In der Schwebe


Schließlich zog sie ihn in einen Winkel des überfülltesten der vier Säle. Sie nahm die Maske ab und sah ihn an, ohne zu lächeln, plötzlich wie entrückt. In diesem Moment mitten im Gedränge ergriff ihn das heftige Verlangen, sie zu küssen, sie zu umarmen und nie mehr loszulassen.
Ihr Mund kam immer näher.
Doch statt aufzurücken, Gesicht auf Gesicht, trat er in einer Bewegung von Schwanken und Zaudern zur Seite. Er ließ es aussehen, als habe man ihn geschubst oder von ihr weggedrängt.
»Warum küsst du mich nicht«, fragte sie immer noch nahe an seinem Gesicht.
Er tat, als habe er sie im Getöne nicht verstanden, lächelte blöde. Sollte er sie wirklich küssen?
Dann kramte er seine Zigaretten hervor, um sich eine anzuzünden. Tief zog er den Rauch ein und blies ihn wieder aus, um sich zu vergewissern, ob er noch lebte. Warum küsste er sie nicht? Warum zauderte er? Er wollte es doch! Es kam ihm vor, als ob die Erde plötzlich stehen geblieben war.
Man könnte im Zaudern eine Art Wahnsinn erkennen, dachte er, einen exzentrischen Augenblick, in dem man nicht nur die Tat, sondern auch die Welt, in der sie sich realisiert, in der Schwebe hält.
Er lachte auf. »Ich werde dich küssen“, sagte er, „aber ich sag dir nicht wann!«

Dienstag, 8. November 2011

Die Stiche der Flöhe


So glaubte die alte, stumpfnasige Vettel täglich, ja stündlich von bösen Geistern umgeben zu sein, welche sie zwar nicht sah, wohl aber zu hören glaubte und welchen sie ihre körperlichen Beschwerden und alle Anfechtungen ihres Gemüts zuschrieb. Fühlte sie Neigung zum Erbrechen, so mussten ihr die Dämonen diese eingeflösst haben, zeigten sich Runzeln auf ihrer Nase, oder hing die Unterlippe leicht herab, so waren wieder die bösen Geister schuldig; ihr Husten, die Verstopfung ihrer Nase oder ihres Mund konnten ebenfalls nicht auf natürliche Weise entstanden sein. Bückte sie sich zum Beispiel um Früchte zu sammeln und stieg ihr währenddessen Blut gegen den Kopf, so waren die Dämonen tätig. Die Stiche der Flöhe und der Läuse waren ebenfalls Werk der bösen Geister. Denn das Ungeziefer selbst stach eigentlich nicht. Es war etwas anderes, was stach. Auch die Zahnschmerzen, die sie immer wieder plagten, waren dämonischen Ursprungs, und wenn jemand in der Nachbarschaft schnarchte, so schnarchte nicht der Nachbar oder die Nachbarin, sondern ein Dämon tat es aus ihm oder ihr heraus. 

Montag, 7. November 2011

Kränze


Er merkte nicht, was um ihn geschah, sah weder die armseligen Röcke, die vergilbten Pelze, die Bärte und Haare, die mit Schweiß durchtränkt waren, noch die vor Wut und Trauer halb irrsinnigen Augen; er spürte nicht das Schneiden des Windes, hörte nicht das Wimmern der Klageweiber, die hinter dem Erdhügel standen; er dachte nur an den einen Satz, den ihm der Tote noch vor drei Tagen ins Ohr geflüstert hatte: »Das Leben bemisst sich nicht an der Anzahl der Kränze!« Und er hatte Recht gehabt, der alte Haudegen. 

Freitag, 4. November 2011

Wahrheit

Eine Reminiszenz an Marc Bloch
Im düsteren Treppenhaus blieben sie stehen. Sie roch die scharfen Küchengerüche. Irgendwo weinte ein Baby. Der alte Mann nahm seinen Hut und legte ihn auf einen wurmstichigen Tisch, der direkt am Eingang stand, ganz vorsichtig, als sei es ein bedeutsames Ritual. Dann senkte er den Blick. Ein Schabe kroch unter der Fußleiste hervor und huschte im Zickzack über eine Treppenstufe.
»Das ist meine kleine, nicht immer ganz saubere, nicht immer von den edelsten Leidenschaften beseelte, alles in allem doch ziemlich erbärmliche Welt«, sagte er, während er sich am Geländer festklammerte. »Mein ganzes Leben lang habe ich nach Aufrichtigkeit im Ausdruck wie im Denken gestrebt.« Seine Stimme klang schleppend. Es war, als müsste seine Zunge beim Sprechen kleine Steinchen aus der Tiefe seines Körpers holen. »Und was hat es genutzt?« Er machte eine beschwichtigende Handbewegung, lächelnd. »Nichts.« Er war drauf und dran, wieder umzukehren, schüttelte dann aber den Kopf und stieg die Treppe hinauf. »Trotzdem aber halte ich Duldsamkeit gegenüber der Unwahrheit, unter welchem Vorwand auch immer sie geübt werden mag, immer noch für die schlimmste Seuche des Geistes.« Er streckte einen Moment lang die Arme aus, als suche er festen Halt, als segne er die Erde oder wolle die Welt in ihrer Unrast bremsen. »Wie ein Größerer als ich«, sagte er, »wünsche ich mir, dass Sie auf meinen Grabstein die schlichten Worte ›Dilexit veritatem‹ setzen.«

Donnerstag, 3. November 2011

Normalität


Als sie sein Zimmer betrat, stieg ihr ein säuerlicher, stechender Geruch, wie von sehr reifen Früchten, in die Nase. Der alte Mann saß im braunen Ledersessel vor dem Fenster. Es sah aus, als starrte er auf den Boden. Während sie näher kam, blickte er auf und sah sie unverwandt an. Dann zeigte er auf den großen Fleck auf der Hose zwischen seinen Beinen. »Es ist einfach so gekommen«, sagte er. »Ich hab’s nicht gemerkt.«
Der alte Mann war von einem auf den anderen Moment geschrumpft. So kam es ihr jedenfalls vor. Er wirkte wie ein kleiner Junge, den sie an die Hand nehmen und durch die Welt führen wollte, obwohl er die Welt – weiß Gott – besser kannte als sie.
Als sie ihm die Hose öffnete, lachte er. Es klang verbittert. »Früher«, sagte er, »ja früher war das ein heiliger Moment, in dem sich meine Zukunft immer wieder aufs Neue entscheiden konnte.« Sie verstand zunächst nicht, was er damit meinte, doch dann ergänzte er: »Sie müssen wissen, ich war früher ein richtiger Casanova. In jedem Hafen eine Braut.« Er blickte sie an, als ob er ihr gleich einen Antrag machen wollte und sagte: »Aber keine Ehefrau.« Sie sah, wie ein Zucken über sein Gesicht ging. »Vielleicht ist Einsamkeit der Preis für über hundert Frauen im Bett?« Seine Stimme schien von einem unbestimmten Ort in ihr Bewusstsein zu dringen. Sie dachte an ihre vielen Männer.
Während sie ihm die Hose über die Beine streifte, war er in einem seltsam abwesenden Zustand, als ginge ihn das, was hier geschah eigentlich nichts an. Er lächelte unsicher, ein halbes Lächeln, und zeigte auf die Lache von Urin, die sich auf dem Boden gebildet hatte. »Es wird alles viel zu schnell zur Normalität«, sagte er in einem Ton, als ob er mit diesen Worten etwas ganz anders ausdrücken wollte, als auf seine Inkontinenz hinzuweisen, und dann schließlich doch: »Selbst das Leben.«
Die Tränen rannen über ihre Wangen; sie waren heiß, sie brannte sich in ihre Haut. »Aber doch nicht das Leben«, sagte sie. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Heulen. Sie erkannte sich selbst kaum wieder.

Mittwoch, 2. November 2011

Alkohol und Wahnsinn


Sie hob den Blick von den leeren Whiskeyflaschen und schaute mich betrübt an. 
Als ich ihre Hand zwischen meiner spürte, bemerkte ich, dass sie weich und zart war, und mir kam der Gedanke, dass wir uns zum ersten Mal auf diese Weise berührten. Einige Sekunden lang herrschte eine verdächtig feierliche Stille. »Meine Freunde«, sagte sie plötzlich, »schreiben meinen Wahnsinn dem Alkohol zu und nicht den Alkohol dem Wahnsinn, dem alltäglichen Wahnsinn. – Damit ist doch alles gesagt? Oder?«