Dienstag, 31. Januar 2012

Die Ährenleserinnen


Sichel schwenkend sang Eva leise vor sich hin. Noch flammte die Sonne über ihr. Geblendet zog sie mit geschlossenen Augen das kurze Jäckchen aus, das ihre Schultern verhüllte. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Mit einem Wonnegefühl ließ sie sich von ihr sengen.
Sie dachte an die Stadtmenschen, die mit ihren offenen motorisierten Kutschen über die staubigen Straßen an ihr vorübersausten, um an einer schönen großen Wiese an der Selz abzubremsen, von ihren Sitzen aufzuspringen und mit Tischen, Stühlen, Decken, Körben, Flaschen und was sonst noch alles sonnenschirmbewehrt in den Schatten zu stürzen. Diese Menschen lachten viel, obwohl sie sich vor den Gefahren der Sonne fürchteten, vor dem stechenden Gefühl auf ihrer Haut, besonders aber vor der Wetterbräune. Es hieß, die Sonne fördere den Blutandrang und ließe die Adern schwellen.
Das alles konnte man in den bunten großen Blättern und Zeitungen lesen, die die Stadtmenschen unter den Bäumen liegen gelassen hatten, damit Eva sich kopfschüttelnd an den farbenprächtigen Bilder erfreuen konnte. Als ob es außerhalb des Papiers, auf das sie gebannt waren, nichts zu sehen gäbe. Eva dachte an den Blick, den man vom Hahnheimerknopf auf den Donnersberg haben konnte, oder vom Hasenberg, einer kleinen Anhöhe hinter dem Dorf, auf Frankfurt, das zu Fuß immerhin mehr als eine Tagesreise entfernt war. Wozu brauchte sie die Bilder aus der großen weiten Welt? Lesen konnten sie nicht. Sie war nie zur Schule gegangen. Warum auch? Sie trug die Sonnenglut der Erde in ihrem Herzen, und in den Falten ihres Kleides die Düfte der reifen Ähren. Das reichte vollkommen aus, um ein gutes, um ein schönes Leben zu leben.
Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie den Kirchturm hinter dem Mohnfeld in der Ferne sah und spürte den weichen Staub der Straße unter ihren Füßen und den schweißnassen Saum ihre Kleides am Hals.
Als sie am Feldkreuz vorbeikam, stand plötzlich die kleine Agnes vor ihr, kräftig, sonnenverbrannt, mit feinem Flaum an Armen und Beinen, wie eine goldene Biene. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie bemühte sich, einen Halm mit den bloßen Zehen zu fassen. Wie Eva hielt auch sie eine Sichel in ihrer Hand.
»Hast auf mich gewartet, - ne?«, fragte Eva.
Agnes nickte. Sie sprach nur, wenn es nötig war. Sie liebte das Schweigen.
Sie gingen eine Weile nebeneinander her, schweigend und die Sicheln schwenkend. Der Kirchturm wuchs und wuchs. 
»Gräm dich nicht«, sagte Eva, als sie die ersten Hunde des Dorfes bellen hörte. »Du musst ihn vergessen. Auch wenn er dir gut war.« Sie hielt einen Moment inne, um sich das Kopftuch aufzusetzen. »Dabei weiß ich gar nicht«, fuhr sie fort, »ob er gut aus Dummheit oder dumm aus Güte war?«
Agnes nickte, was so viel bedeutete wie: Ich weiß auch nicht.
»Zum Glück hat er dich mit keinem kein Kind sitzen lassen, wie mich damals der Hans.« Sie machte wieder eine Pause, pflückte sich eine Kirsche, die ihr von einem Baum entgegenlachte, - der Arm zitterte noch von der Anstrengung des langen Tages - und steckte sie schmatzend in den Mund. »Du musst ihn vergessen. Der Mensch, der nichts vergessen kann, wird mit nichts fertig, auch nicht mit seinem Leben.« Sie spuckte den Kirschkern in den Straßengraben. »Ich denk da an die Pest. Alle, die sich daran erinnern, werden fortgeweht wie Sägemehl im Wind. Ihre Grübeleien machen sie wahnsinnig, ihre Erinnerungen machen sie wahnsinnig. Nur die, die vergessen können, haben ein langes Leben vor sich, und die, die ein gutes Gedächtnis haben, sterben.«
Agnes nickte wieder, was dieses Mal so viel bedeutete wie: Ich verstehe. 

Mittwoch, 18. Januar 2012

Im Flimmern der Geschwindigkeit

Mathilda hatte schon so viel von der Eisenbahn gehört. Jetzt stand sie vor ihr, groß und dampfend wie ein riesiger Lindwurm aus Stahl und Eisen, dessen schwarzes Maul sie bald verschlingen würde, wie all die anderen Passagiere, die duldsam auf dem Bahnsteig standen. Nur, - wann war es so weit? Bis das Pfeifen aufhörte? Würde man sie an der Hand nehmen und die kleine Treppe vor jedem einzelnen Wagen hinaufführen, - „Wagon“ hieß es, wenn sie sich recht besann? Ihr vielleicht sogar den Mantel abnehmen, wie bei einem festlichen Ball? Sie beobachtet die anderen Passagiere, die sicher schon erfahren waren, was die Eisenbahnreise anbelangte. Sie gab auf alles Acht, nur nicht auf die riesige Dampflok, die ihr Angst bereitete.
»Bitte einsteigen!«, rief ein Mann in Uniform mit einem Schild in der Hand. »Alles einsteigen.«
Und schon setzte sich die Menge in Bewegung, auch Mathilda. Sie ging einfach mit. Sie stieg die Treppe hinauf, folgte ihrem Vordermann und setzt sich direkt neben ihn. Als das Pfeifen draußen lauter wurde, schloss sie die Augen. Es ruckelte. Ihr Oberkörper schnellte vor und zurück. Es war wie bei ihrem Einspänner zu Hause, wenn Karl in hoher Fahrt anhalten musste, weil ein spielendes Kind über den Weg lief. »Brrrrr!« Wie oft hatte sie sich so an der Rückenlehne gestoßen.
Misstrauisch warf sie einen Blick aus dem Fenster. Sie sah Menschen, die winkten. Manche weinten, andere lachten. Dann Häuser. Sie schloss die Augen. Ein zweites Mal. Sie würde sie auch nicht mehr öffnen, bis sie in Darmstadt angekommen war.
Ein Kind schrie ein paar Sitze hinter ihr, was ihr Unbehagen steigerte. Sie konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob es aus Freude oder Angst geschah. Ihr wurde plötzlich schwindlig. Sie musste die Augen öffnen und war überrascht, dass die Landschaft so langsam an ihr vorüberzog. Alles schien stillzustehen.
„Möchten sie sich ans Fenster setzen, gnädige Frau?“, fragte ihr Nachbar freundlich. Er trug einen lustig gezwirbelten Bart in seinem Gesicht.
Sie nickte.
Er stand auf, drehte sich zu ihr, und lüpfte kurz seinen Hut, um sie dann mit einer einfachen Handbewegung zum Aufrutschen aufzufordern.
„Danke“, sagte sie.
Jetzt war alles anders, als sie aus dem Fenster blickte. Hatte der Zug etwa seine Geschwindigkeit erhöht? Die Schnelligkeit war unerhört. Aber, nein. Wie konnte sie denn so einfältig sein? Die Ferne rückte nach wie vor nur sehr langsam hinweg. Es war nur die Nähe, die verschwamm. Die Blumen am Wege waren keine Blumen mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Striche; auch die Bäume nahe der Schienen, die Brücken, die der Zug überquerte, wurden allesamt zu Strichen, zu Geraden, die endlos weiterliefen und für Mathilda die Begradigung widerspiegelten, die die Landschaft, ja die Welt durch die Eisenbahn erfuhr. Die Eisenbahn legte ihrem Auge gleichsam eine Uniform an, die alles zu einem Strich herabminderte: die Kühe, die Schafe, selbst die Menschen, an denen der Zug nahe genug vorbeirauschte. Und wenn sie lange genug aus dem Fenster sah, so verwandelten sich auch die Dinge in der Ferne, die Berge, die Wälder, die Dörfer in endlose Striche, bis sie gegen den Horizont entschwanden, der selbst ein Strich war. 
Das alles konnte auf das Leben und das Denken nicht ohne Einfluss bleiben. Denn im Flimmern der Geschwindigkeit lösten sich nicht nur die Dinge auf, sondern auch der Zusammenhang zwischen den Dingen; auch ihre Bedeutung schob sich ineinander und verlöschte. Man hatte keine Anhaltspunkte mehr außer sich selbst. Ja, mehr noch: Die Eisenbahn tötete den Raum. Es blieb nur noch die Zeit übrig. Sie hatte Angst. Wie sollte das alles enden?  Es war ihr, als kämen die Berge und Wälder auf sie zugerückt, um für immer zu verschwinden. Sie roch schon den Duft der Zypressen, vor ihr brandete das Mittelmeer. Es würde nur kurz sein.

Donnerstag, 12. Januar 2012

Kleinvieh

Halbnackt lag sie in seinen Armen und drehte sich langsam mit ihm im Takt. Dort, wo sie hintanzten, machte die Menge respektvoll Platz. Er war glücklich, denn sie war jetzt seine Frau, und mit ihr kam ein Vermögen in seinen Besitz, das er sich nie zu erträumen gehofft hatte. Bis ans Ende seiner Tage würde er in Saus und Braus leben können. Er würde sich von keiner mehr aushalten und keine mehr heiraten müssen. Woher ihr Reichtum kam, hatte er nie gefragt. Er wusste nur, dass sie ihn nicht ererbt, sondern sich erarbeitet hatte. Aber wie? Sie war ein gutmütiger Mensch, einer jener sonderbaren ruhelosen Charaktere, die nicht imstande waren, eine Ungerechtigkeit gelassen hinzunehmen, ja sie konnte noch nicht einmal das ertragen, was ihr als solche erschien. Wie hätte sie dann Geschäfte machen können, die ihr anderen gegenüber einen finanziellen Vorteil verschafft hatten? Gewiss manchmal forderte sie von anderen die zarteste Rücksicht, während sie selbst schroff und unduldsam war. Aber das hatte nichts mit ihrem Geld zu tun. Es war eine Laune der Natur und entsprach nicht ihrem Wesen. Er wüsste mit diesen Grillen fertig zu werden.
Vom Meer wehte ein köstlicher lauer Wind, und der Anblick des halb grauen, halb rötlichen Himmels, der sich über ihnen auftat, würde in Wien sicher rätselhaft sein.
»Wenn einer nicht genug Grütze im Kopf hat«, sagte sie plötzlich und blickte ihn mit ihren absinthgrünen Augen an, »dann ist es sein eigener Schaden.« Sie riss sich von ihm los, streckte die Arme in die Luft und begann sich ganz entgegen der Musik konvulsivisch hin und her zu wiegen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Ich weiß, wer und auch was du bist«, sagte sie langsam, indem sie jedes einzelne Wort betonte und bewegte sich um ihn herum. »Du bist nicht der, für den du dich ausgibst. Du bist ein Heiratsschwindler, ein Betrüger. Du hast geglaubt, du könntest ab heute wie eine Made im Speck leben!«
Sein verblüffter Blick folgte ihr und ließ ihn, sich um seine eigene Achse drehen. Es war ihm, als ob ein Engel plötzlich Zoten sang und sich in hysterischen Krämpfen wand.
»Du hast dich getäuscht. Ich bin genauso wenig vermögend wie du.« Sie machte eine Pause und fuhr ihm, während sie sich weiter um ihn drehte, mit dem Handrücken über Gesicht und Hinterkopf. »Aber vielleicht werde ich es noch.« Sie lachte. »Mit deiner Hilfe.«
Er wollte etwas entgegnen, war aber so verwirrt, dass er kein Wort herausbrachte.
»Ich bin eine Mätresse, eine Hure. Und du - » Sie machte eine Pause. »Du bist jetzt mein Lude.« Sie lachte. »Man muss sich in dieser Welt zu schicken wissen. Ich gehören nicht zu denen, die eine Königin übertrumpfen wollen, indem sie ihre Tür bloß den Reichen und Mächtigen öffnet. Es gibt keinen größeren Berg als den, den man mit, › Wenig und Oft‹ aufbaut. Dumme Hühner sind diejenigen, die sagen: ›Ein Ochse macht auf einmal so einen Haufen wie tausend Fliegen zusammen.‹ Denn es gibt so viel mehr Fliegen als Ochsen. Auf einen großen Herren kommen zwanzig, die dich mit Versprechungen zahlen, aber tausende von denen, die keine großen Herren sind, füllen dir die Hände. Ich weiß ganz gut, welche schönen Batzen Schenkwirte, Theriakshändler, Scherer, Barbiere und Bauern vertun.«

Mittwoch, 11. Januar 2012

Im Templer

Es kam ihr alles unwirklich vor: der Fastnachtsbrunnen mit seinen grotesken Gestalten, die sich im Sprühnebel versteckten und der gewaltige Dom, eingetaucht in ein seltsames Gebläse, das von vier Musikern in schwarzen bodenlangen Gewänder stammten, die über den Leichhof glitten. »Wie können all diese Leute«, sie zeigte auf einen der Musiker, dessen Sousaphon sich wie eine Riesenschlange um seinen Körper gewickelt hatte, »ihr Leben einfach fortsetzen, während ein Verbrechen geschehen ist. Wenn wir nichts unternehmen, wird Pfeiffer niemals seine gerechte Strafe erhalten.«
»Gerechte Strafe«, wiederholte Helga abfällig, als sie in die Augustinerstraße einbogen. »Das ist doch nur eine Redensart. Die Auffassung, dass das Leben die gerechte Strafe oder den gerechten Lohn bereithält, dass allem eine tiefere Bedeutung zukommt als die, die wir ihm bemessen, ist doch nur tröstlicher Aberglaube.«
»Aber Helga«, Lucia blieb stehen, »glaubst du denn nicht an Gerechtigkeit?«
»Komm«, sagte Helga milde und hakte sich bei ihr unter; ihre dünnen, knochigen Fingern nahmen sich aus wie die eines kleinen Mädchens. »Ich bin müde. Die ganze Sache hat mich viel Energie gekostet, und ich wünsche mir jetzt nur eine warme Suppe in der gemütlichen Weinstube, von der du mir erzählt hast.«
Vor der Ignatzkirche blieb Lucia stehen und wartete darauf, dass sich ihre Gereiztheit legte. »Hier ist es«, sagte sie und zeigte auf das Wirtshausschild gegenüber, auf dem ein Ritter abgebildet war.
© Christian Kohl
Die Täfelung aus Eichenenholz bedrängte Lucia zunächst von allen Seiten, als sie in den »Templer« eintrat, doch als Pierre, Mainz’ prominentester Korse, mit »Efin, ma Chéri« auf den Lippen ihr aus der Küche entgegenstürmte und sie mit Küsschen bedachte, fühlte sie sich frei und geborgen. »Isch«, begann er mit einem französischen Akzent, der die Melodie der Mainzer Mundart nachzuahmen schien, »abe gewusst, dass du eute kommst. Es gibt Cassoulet!« Er hielt sie fest und blickte ihr in die Augen. »Aber was hast du?«
Lucia presste den Mund zu einem dünnen Strich zusammen und wich zurück.
Erst jetzt schien er Helga zu bemerken. »Du hast mir deine Freundin noch nicht vorgestellt.« Er beugte sich zu ihr, um auch sie zu küssen. »Nun, meine Schönen«, sagte er und verschwand hinter dem Tresen, »ist es Zeit für einen Aperitif.« Er ließ keine Widerrede zu und drückte jeder der beiden alten Damen ein Glas Champagner in die Hand. Während er Lucia den Stuhl an ihren Lieblingstisch heranrückte, gestattete sie sich das Lächeln, das sie so lange unterdrückt hatte. Erst als auch Helga Platz genommen hatte, setzte er sich dazu. »Du weißt«, sagte er eindringlich, »du kannst mir alles sagen, was dich bedrückt.«
Lucia zögerte, doch dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte.
Er hatte seinen Champagner ausgetrunken und beäugte Lucias unberührtes Glas. »Um dein Ziel zu erreichen«, sagte er, »lauf in die entgegengesetzte Richtung.«
Sie konnte nicht mehr fragen, wie er das meinte, denn in diesem Augenblick kam die Kellnerin mit einer großen irdenen Kasserolle, und eine Viertelstunde lang wandte sich alle Aufmerksamkeit, mit anerkennenden Worten von allen Anwesenden, dem Cassoulet zu, und Pierre, hocherfreut, revanchierte sich mit der Geschichte, wie er die unerlässliche Zutat, die eingemachte Gans, in Straßburg erstanden hatte. Als die Mahlzeit beendet war, nahm er den Faden wieder auf. »Peiffer ist ein Spieler«, sagte er. »Du musst ihn dort packen, wo er es nicht erwartet, dort, wo seine Leidenschaft tobt.«
»In der Spielbank?«, fragte Lucia unsicher.
»Nein, er spielt Poker, und das mindestens zwei Mal die Woche.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Mit Didier«, sagte er schließlich und zwinkerte ihr zu. »Er nimmt dich sicher mit.«
»Ich und Poker«, entgegnete Lucia leicht abwehrend und stürzte ihren Champagner hinunter. »Mit Glücksspiel habe ich rein gar nichts am Hut!« Ihre gebrochene Rippe begann wieder zu schmerzen.
»Du sollst ja auch nicht spielen«, sagte Pierre und stand auf, »sondern ihn zum Pokerspiel begleiten«. Sein Gesicht lag jetzt im rötlichen Schein der Nachmittagssonne, die sich durch die beiden Fenster in den »Templer« drängte. »Sozusagen als Glücksfee.«
Lucia starrte Helga an, erwartete, dass diese Widerspruch erhob und sie zum Arzt oder ins Bett schickte oder irgendetwas sagte wie »In deinem Zustand ist es nicht angemessen, wenn du dich in weitere Abenteuer stürzt.« Doch es kam nichts dergleichen, noch nicht einmal ein unmerkliches Kopfschütteln. »Und wohin?«, fragte sie zögerlich. Sie stellte sich ein verruchtes Lokal mit ebenso verruchten Gestalten vor, die trinkend und rauchend um einen runden Tisch saßen und sich neben schmutzige Schoten abgegriffene Spielkarten entgegenwarfen. Bei dem Gedanken war ihr etwas mulmig zumute. Vielleicht sollten sie und Helga jetzt gehen?
»Ich weiß nicht, ma chérie«, antwortete Pierre und grinste. »Das wirst du schon noch sehen.«
Sie wusste, dass er etwas vor ihr verbarg, das sah sie an seinen Augen.
Er ging hinter den Tresen, nahm das Telefon und verschwand damit in der Küche. Nach einer Weile kam er mit einer noch heißen Tarte Tartin in der Hand zurück und sagte: »Ich habe mit Didier telefoniert.« Er stellte den Kuchen auf den Tisch. »Du hast Glück, ma Belle. Heute Abend ist ein Pokerspiel. Didier holt dich hier ab. Die Tarte wird euch beiden bis dahin die Zeit versüßen.«
Pierre hatte damit vollendete Tatsachen geschaffen. Lucia musste nun bleiben und ließ sich mit dem unbeschreiblich wohlschmeckenden Apfelkuchen verwöhnen, der auch Helga zu schmecken schien, was unschwer an ihrem ungewöhnlich großen Appetit abzulesen war, der sie vier große Stücke verschlingen ließ, zwei mehr als sonst im Wiesbadener Maldaner. Während die beiden Damen aßen, zeigte er ihnen einige ausgefallene Stücke seiner umfangreichen Kaffeemühlensammlung, der größten, wie Lucia wusste, weit und breit. Dabei machte er das ein oder andere Kompliment, das Helga, sehr empfänglich für Höflichkeit und Schmeichelei, immer wieder zum Jauchzen brachte. Pierre’s liebenswürdig-gewinnende Wesensart schien ihr nicht unangenehm zu sein. Mehr noch: Lucia hatte ihre Freundin noch nie so munter erlebt.
»Die Mainzer!«, seufzte Helga immer wieder, als sehne sie sich nach einem anderen Leben. »Die Mainzer!« Und so war sie auch nicht empört darüber, dass Lucia und sie, die eingefleischte Wiesbadenerin, von einem Mann, der plötzlich mitten im »Templer« stand, mit »Wo sind dann die Meenzer Mädcher« begrüßt wurden. Sie stieß aber ein erschrecktes Lachen aus, als sie sich umdrehte. Denn hinter ihr stand ein männliches Ungetüm, das mit dem kleinen Kopf aus seinen Muskeln schaute wie eine Schildkröte aus ihrem Gehäuse. Trotz seines eleganten Anzuges, warf sie ihm einen raschen Blick konzentrierter Verachtung zu und drehte sich wieder um.
© Christian Kohl
Er setzte sich neben sie, rieb sich die rechte Hand mit der linken und sagte, die Ellbogen auf den Tisch gestützt: »Isch bin der Dieter!« Als er zu sprechen begann, zuckte Helga zusammen und tastete nach ihrer Tasche.
»Didier«, korrigierte Pierre, was Helga, aber auch Lucia leicht aufatmen ließ.
»Wer von euch beiden Hübschen«, fragte Dieter, »ist denn mein Maskottchen?« Er roch stark nach Eau de Toilette, Egoist, ein Duft aus den Achtzigern, der sicher seine Alkoholfahne überdecken sollte, die Lucia wenig später in die Nase stieg.
»Ich«, antwortete sie zögerlich und beugte sich zu ihm hinüber, um ihm die wenigen unbeholfenen Sätze zu sagen, die sie sich zurechtgelegt hatte. Doch er wusste schon Bescheid, nickte ab und sagte: »Den Pfeiffer, den kennt hier jeder!« Er brabbelte etwas von Spielerschulden und Ehre, was Lucia nicht verstand, um dann in die Frage einzumünden: »Was wollt ihr zwei Lotusblüten denn von dem? Der ist doch verheiratet.« Er machte eine Pause und sah Lucia mit durchdringenden Basedowschen Augen an, die etwas an sich hatten, das sie auf der Hut sein ließ. Dann fuhr er lachend fort: »Außerdem sind Frauen nicht ganz sein Fall!« 






Bestellung signierter Exemplare mit persönlicher Widmung hier auf der Seite unter dem Reiter "Kontakte". 



Niemand ist so veranlagt, dass man ihm trauen könnte! – Das ist die fixe Idee der Mainzer Grabrednerin Lucia Herzer, einer pensionierten Lehrerin, die hinter jedem Trauerfall einen Mord vermutet. Sehr zum Missfallen ihrer Wiesbadener Freundin Helga. Denn die selbst ernannte Mainzer Miss Marple geht dabei fast immer in die Irre. Sie beschuldigt unbescholtene Bürger und lässt sich zu waghalsigen Aktionen verleiten, die für die beiden Freundinnen nicht immer ungefährlich sind. Doch auch ein blindes Huhn wie sie findet manchmal ein Korn.
Dieser Stadtkrimi, an dem die Leser der „Stadtausgabe Mainz“ als Ideengeber mitgewirkt haben, ist mehr als nur eine bloße Aneinanderreihung von Aha-Erlebnissen – etwa wenn man die Kneipe an der Ecke oder bestimmte Mainzer Persönlichkeiten wiedererkennt. Er ist urkomisch und spannend zugleich.

Dienstag, 10. Januar 2012

Herausgefallen

Nach fünfminütigem Dösen wachte Anna auf und sah einen nackten Mann mit schütterem Haar und liebevollem Gesichtsausdruck vor ihrem Bett stehen. Wo war sie? Wer war diese Person? Was wollte er? Sie zog die Decke über ihre nackten Brüste und starrte ihn an. Schließlich fragte sie: „Gehöre ich hierher?“
»Na klar«, sagte er lächelnd und setzte sich neben sie.
Sie spürte eine unendliche, kühle Leere. Sie hatte das Gefühl, dass in ihrem Körper eine Tote lebte.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich weiß nicht, wer ich bin?«
»Was soll das heißen, du weißt nicht, wer du bist?«, fragte er sanft und immer noch lächelnd. Er lüpfte die Bettdecke und schlüpfte darunter, sein kalter, nackter Köper an ihrem.
»Ich weiß nicht, wer ich bin«, wiederholte sie.
Jetzt lachte er. »Hör doch auf mit diesem metaphysischen Quatsch, mein Schatz. Und schlaf noch ein bisschen. Es wird heute Abend spät werden. Du weißt doch, wie deine Mutter ist!«
© Paula Andrea Alvarado 
Sie sprang auf und zog den Morgenmantel an. Sperma klebte an ihren Oberschenkeln. Dann rannte sie nach draußen und stieg die Anhöhe hinauf. Das trockene, braune Gras, hart und spitz wie kleine aufrecht stehende Nägel zerbrachen knackend unter ihren Füßen. Während des Aufstiegs versuchte sie ihre Traumvorstellungen von einem Mann mit diesem nackten Mann, der ihr Mann war, in Übereinstimmung zu bringen. Aber es gelang ihr nicht. Warum gelang es ihr nicht? War es ihr jemals gelungen? Sicher. Sonst wäre dieser nackte Mann doch nicht ihr Mann. Oder hatte sie  ihn gegen ihre Traumvorstellungen geheiratet? Was war geschehen? Was war mit ihr geschehen? Warum stellte sie alles in Frage? – Weil die Vergangenheit aus unerfindlichen Gründen nicht mehr der Gegenwart und die Gegenwart nicht mehr der Zukunft glich. Und weil sich damit die Gewohnheit als Gewohnheit entlarvt hatte.
Die Sonnenstrahlen pressten sich wie ein warmer Körper an sie, ließen sie schwitzen und erfüllten sie plötzlich mit dem eigenartigen Verlangen, sich ihres Morgenmantels zu entledigen und nackt weiter zu laufen, was sie auch sofort tat. Oben angekommen streckte sie die Arme über ihren Kopf, ließ das Haar in den Nacken fallen, schloss die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Sie summte eine Art melodieloses Lied, einen Sprechgesang und bemerkte, wie sich die Erde bewegte, wie sich um sie herum alle Elemente in Bewegung setzten. Sie nahm die Hitze in sich auf und spürte all die Bewegungen ihres Körpers als persönliche Ereignisse, die sie sozusagen von außen heimsuchten, plötzliche Lichtstrahlen, die wie Blitze durch sie hindurchfuhren. Sie war nicht verrückt. Sie hatte sich verrückt. Plötzlich wusste sie, wer sie war und wusste auch, warum ihr Mann nicht der Mann war, den sie sich erträumt hatte. Und es war ihr jetzt auch völlig gleichgültig, ob ihr Mann ihren Traumvorstellungen entsprach. Wichtig war nur, dass sie sich selbst wieder spürte.

Montag, 9. Januar 2012

Stachel




Sie kehrte zur Wohnung zurück, mit einer Niedergeschlagenheit, die ihr die Knochen erweichte. Trotz der Hitze war ihr eiskalt. Er öffnete die Tür, noch immer nackt, und sah sie an.
»Ich kann nicht anders, auch wenn du mich wieder rauswirfst«, sagt sie und drängte sich an ihm vorbei. »Du bist ein Stachel in meinem Fleisch! Kommst wie ein Fluch über mich!«