Freitag, 31. August 2012

Selbstbefleckung

Ihre Todfeinde waren die Lohnkutscher, und es schien, als ob sie im Rad ihren Untergang witterten. Hohnlachend fuhren sie direkt in die drei radelnden Frauen hinein, so dass meist eine von ihnen im Straßengraben landete, sehr zum Leidwesen der braven Kühe, die an der Straße oder am Feldweg grasten. Oder sie schlugen mit der Peitsche nach ihnen und trafen leider oft genug. Die Kinder hatten, von den Großen angestiftet, ganze Batterien von Lehmklumpen und Schmutzlappen aufgehäuft, um sie damit möglichst gründlich zu bombardieren. Auch die Hunde verfolgten sie bis zum Ende des Dorfes, von boshaften Menschen gehetzt, und schnappten so lange nach ihren Waden, bis sie von den Speichen der Räder oder von der Peitsche, die eine der drei Frauen vorsorglich in ihre Manteltasche gesteckt hatte, eines Besseren belehrt wurden. 
Aber das war für Maria noch lange nicht das Schlimmste. Eine Frau auf dem Rad! - Grinsend standen sie da in Stadt und Land, sahen ihr nach, und überschütteten sie mit höhnischen Redensarten, gemeinen Schimpfworten, wenn nicht noch Schlimmerem, das sie trotz ihres Alters vor Scham erröten ließ. Ihre Verwandten sagten ihr die Fehde an, wenn sie das Radfahren nicht ließe. Selbst ihr Mann enthielt sich nicht beleidigender Reden, besonders hinsichtlich der Selbstbefleckung.
»Es kann keinem Zweifel unterliegen«, sagte er von Medizinalrat Röver belehrt, »dass kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie sich beim Radfahren darbietet. Wenn man ganz absieht von denjenigen Fällen, in denen der Sattel in ganz besonderer Absicht mit einem nach oben gekrümmten Vorderteil versehen wird, so bietet auch sonst der Sitz rittlings mit ausgespreizten Schenkeln und vornübergeneigter Haltung, ausreichend Möglichkeit, solchem Hange nachzugeben. Sieh dir doch die radelnden Mädchen an! Sie sind zuweilen schon äußerlich in ihrem ganzen Auftreten auffällig:  blass, mit müdem Gesichtsausdruck, dunkel umrandeten, matten Augen, träge in ihren Bewegungen, lieben sie es recht lange im Bett zu bleiben.«
Maria verzichtet auf den Verkehr mit ihm und blieb ihrem Rad treu.  All dieser Ärger und schließlich der Umstand, dass sie durch Einspänner wiederholt in Lebensgefahr geriet, was sie niemandem erzählen durfte, ohne einen ganzen Sprichwörterschatz, wie ›Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis‹, gegen sich mobil zu machen, hätte sie vielleicht doch bewogen, das Radfahren aufzugeben, wenn nicht ihr Vater sechs Meilen von Bonn krank gelegen hätte.
 Er war immer sehr erfreut darüber, wenn sie auf dem Fahrrad heranrauschte, und einmal ließ er sich sogar ans Fenster tragen, um sie auf dem Rad zu sehen.
»Lass die dummen Menschen reden«, sagte er, »und harre aus! Das Ding hat eine große Zukunft.«