Montag, 17. Dezember 2012

Grabenkämpfe

Um der Eintönigkeit der Schreibstube zu entfliehen, war er seinen wieder zum Leben erwachten Trieben nach Expansion gefolgt, wie übrigens alle Männer seiner unmittelbaren Umgebung und seines Alters, und hatte sich an die Front gemeldet. Jetzt musste er nicht mehr zweifeln, ob er den richtigen Beruf, die richtige Frau oder das richtige Leben erwählt hatte und die entsprechenden Anforderungen erfüllte. Der Krieg hatte diese Unsicherheiten, diesen inneren Widerstreit erstickt und durch solche Dinge wie Gehorsam und Disziplin abgelöst, denen er sich freiwillig, ja sogar mir Hurra-Geschrei unterworfen hatte.
Am Anfang hatte freilich sein übermenschlicher Hass gestanden, sein Hass gegen den Erbfeind Frankreich, dem er es wieder einmal so richtig hatte zeigen wollen. - Hass war aber eigentlich gar kein Ausdruck gewesen für das, was er damals empfand.
»Das Wort das meine Gefühle gegen die verweichlichten Franzosen bezeichnet«, erklärte er dem Amtsleiter bei seinem Abschied, während er seine Ärmelschoner abstreifte, »muss erst noch erfunden werden. Ich hasse sie, genau genommen, auch gar nicht. Ich hasse ihr Blut. Verstehen Sie das? Ich wittere ein degeneriertes Tier, wenn auch nur ein Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen fließt, und -« er biss die Zähne zusammen, »das kommt zuweilen vor.« Unfähig weiterzusprechen vor Aufregung, lief er ans Fenster, um die kriegsbegeisterten Massen unten auf der Straße zu beobachten, wie sie vor Glück taumelnd riesige bunte Banner vor sich hertrugen, auf denen all das stand, was er schon immer zu glauben meinte.
Er öffnete das Fenster und breitete seine Arme dem strahlenden, aber luftigen Sommertag entgegen, dessen spröder Hauch zu ihm drang, den Duft des Heldenmutes und der fernen, mit dem Tode ringenden Feindesmacht herübertragend. Er schien den Sieg förmlich zu riechen.
»Wir frühstücken morgen in Paris«, schrie er überwältigt nach draußen. »Paris! Paris! Wir fahren nach Paris!« Der Krieg würde nicht lange dauern.
Nach mehr als dreizehn Monaten witterte er ihn nicht mehr, diesen betörenden Duft des Sieges. Stattdessen roch er den Gestank der im Niemandsland verwesenden Leichen, vor allem aber den strengen Geruch von Pisse und menschlichen Exkrementen, der hinter dem befestigten Schützengraben zwischen den dicken Wurzeln und den buschigen Stämmen der Eiben aufstieg, dort wo die Feldlatrinen waren, die man so eingerichtet hatte, dass eine große Anzahl von Mannschaften in den Gefechtspausen nebeneinander hocken konnten. Da keine Trennwände vorhanden waren, wurde hier der Geselligkeit gefrönt und alles be- und zerredet, was man je gehört hatte. So entstanden die berühmten Latrinenparolen, Gerüchte und Geschichten aus einer anderen Welt. Am meisten hatten es ihm die Aphorismen angetan, die zum Besten gegeben wurden, während man die Lageberichte herumreichte, die man als Toilettenpapier benutzte. Ein Spruch würde er nie vergessen: Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang.