Dienstag, 13. März 2012

Pressekonferenz

Ungeduldig blickte Stefanie auf ihre Uhr. Wann begann nun endlich diese beschissene Pressekonferenz, wozu man sie jetzt, kurz vor ihrem Urlaub, verdonnert hatte, weil Dr. Schöneberg mal wieder eine Schnupfnase hatte, mit der er sich unmöglich vor den Kameras hatte zeigen wollen? Dieser eitle Fatzke! Wozu gab es denn Schminke? Außerdem war sein Platz ja eigentlich nicht davor, sondern dahinter! Aber bei den eigenartigen Fragen, die er manchmal stellte, wusste man nie, ob sich die Kamera eines Kollegen nicht doch auf seinem Gesicht verirren sollte.
Sie überlegte, wie viel Zeit ihr bliebe, um einen einigermaßen annehmbaren Artikel schreiben zu können. Der Flieger ging um neun. Davor musste sie sich noch duschen, umziehen, noch ein paar Sachen einpacken, einchecken... Wenn die Pressekonferenz in ein paar Minuten anfing und wie immer etwa eine halbe Stunde dauerte, dann hätte sie vier Stunden Zeit. Ach, sie musste ja noch Ben anrufen, damit er sich von seinem Computer loseiste. Fünf Minuten dürften für ein Telefonat reichen. Der gute Ben! Wenn er überhaupt so lange telefonieren konnte. Er machte sich vor Aufregung sicher in die Hose: sie mit ihm zwei Wochen auf Sizilien. Wie lange lief er schon hinter ihr her? Drei oder vier Jahre? Oder noch länger? Eigentlich sollte man mit so einem nicht in den Urlaub fahren! Das gab nur Probleme. Außerdem war er ein Programmierer. Gab es etwas Langweiligeres? - Aber mit wem hätte denn sonst fahren sollen?
Der Minister und seine Pressesprecherin betraten den Saal. Es war schon eine Weile her, dass sie einen Politiker aus nächster Nähe gesehen hatte, ihr war das Huschen der Augen entfallen, die rastlose Ausschau nach neuen Zuhörern oder Abweichlern, nach der Nähe einer Persönlichkeit von höherem Rang oder einer wichtigen Gelegenheit, die womöglich ungenutzt verstrich.
Der Typ legt die Frauen reihenweise flach, hatte sie gehört.
Naja, er sah nicht schlecht aus. Das musste sie zugeben. Und er hatte noch nicht einmal so viel Zucht und Ehre im Leib, wie eine Mücke auf dem Schwanz wegführen konnte. Was ihr ebenfalls nicht missfiel.
»Herr Minister«, sagte ihr Kollege vom Stern. »Es heißt, es gebe Kommunikationsprobleme zwischen Ihnen und der Kanzlerin. Können Sie das bestätigen?«
Der Minister lächelte. »Nein«, sagte er lapidar. Er machte eine kleine Pause. Ihr kam es vor, als ob er ihr auf die Brüste blickte. »Außerdem: Was heißt schon Kommunikation. Noch niemals ist soviel von Kommunikation geschwätzt worden wie heute angesichts all dieser Bemühungen, die Einsamkeit zu verwalten und zu organisieren.«
Er war schlagfertig und eloquent, dass musste man ihm lassen. Sie hob den Finger, und dachte dabei an ihre Schulzeit.
»Ja bitte, Frau...«
»Frau Dr. Reiss«, ergänzte die Sprecherin, »vom Spiegel.«
»Herr Minister«, sagte Stefanie und funkelte ihn herausfordernd an, »warum haben Sie gelogen, als sie vor zwei Monaten erklärten, dass Sie noch nie etwas mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der RWE zu tun gehabt hätten?«
»Ich will Ihre Frage mal philosophisch beantworten«, sagte er halb stichelnd, halb schelmisch, scheinbar in dem Wunsch, nicht gleich mit seinem Gedanken herausplatzen zu müssen. »Die Menschen wollen belogen werden.« Er lächelte.
»Ach«, sagte sie. »Das ist mir aber neu!«
»Tatsächlich?« Er sah sie eine Weile forschend an, schweigend, nachdenklich, als suchte er nach einem richtigen Wort für das, was er sagen wollte. Plötzlich lockerte er seine Krawatte und lehnte sich zurück. »Die Wahrheit ist immer verwickelt«, sagte er, »in allem und vorab in gesellschaftlichen Dingen. Der Wähler begreift aber keine verwickelten Ideen. Man darf ihm nur einfache Ideen, vage Allgemeinplätze vorsetzen, Lügen also, die vielleicht von Wahrheiten herstammen können. Die Welt leitete sich durch Lügen. - Wie glauben Sie, habe ich es so schnell bis ins Bundeskabinett geschafft? – Wer die Welt führen will, muss sie bis zum Delirium belügen und er wird es umso erfolgreicher tun, je mehr er sich selbst belügt und von der Wahrheit der Lüge durchdrungen ist, die er schuf.« Er machte eine Pause. »Ist Ihnen das als Antwort genug?«
Sie nickte. Sie war förmlich überrascht, dass sie nichts mehr sagen konnte. Es wurde Zeit, dass dieses Spektakel hier zu Ende war, damit ihr Urlaub beginnen konnte. Sie dachte wieder an Ben. Wenn sie sich anstrengte, wenn sie ein paar Tage lang nicht mehr an ihre Arbeit dachte, brachte sie es vielleicht doch noch fertig, sich in Ben zu verlieben. Er war ein guter Kerl, aufrichtig, wenn auch ein bisschen einfältig, eine treue Seele eben. Er hatte keine Ahnung, wie es in den Medien zuging. Dass auch sie und gerade sie mit der Lüge umgingen wie die Hardware mit der Software. Ben würde immer zu ihr halten. Bei dem Gedanken überkam sie plötzlich eine tiefe Zuneigung zu sich selbst, als sei sie ein Mensch, den man lieben könnte, und sie spürte, wie ihr eine Träne über den Wangenknochen kullerte. 

Donnerstag, 8. März 2012

Ein überflüssiges Telefonat

Endlich erwachte er, umgeben von den friedlichen Geräuschen des Morgens – der Radiowecker neben dem Bett, wo man gerade eine leise Sonate von Scarlatti spielte, Vogelgezwitscher draußen im Park, das leise Knarren der Kleiderschranktür. Er schob die Bettdecke weg, blieb nackt auf dem Rücken liegen und spürte, wie die leichte Brise, die vom Strand her wehte, den Schweiß auf seiner Brust trocknete. Er dachte daran, wie er gleich den Kaufvertrag für das große, schön gelbe Haus über dem Strand mit dem Blick auf den Ätna und Taormina unterzeichnen würde. Er streckte sich und gähnte. Bis dahin waren es nur noch achtundvierzig Minuten, genug Zeit, um sich zu rasieren und zu duschen. Sein nackter, gebräunter Körper auf dem Laken und der Anblick seiner Erektion ließen ihn an Marcella denken. Er blickte auf die Uhr und überlegte, ob er masturbieren sollte, ob es nützlich wäre, für die anstehende Aufgabe einen klaren Kopf zu haben. Versonnen nahm er seinen Penis in die Hand und fuhr damit ein paar Mal hoch und runter. Er kam sich dabei lächerlich vor und ließ es bleiben. Ob er jetzt seine Frau anrufen sollte? Er betrachtete das Telefon, das auf dem Tischchen neben der bunten Holzkatze stand. Dann fasste er sich ein Herz. Sein Finger betätigte ganz sanft die Wählscheibe. Die Geräusche, die sie machte, erinnerten ihn an das muffige Büro seines Großvaters, an die vielen Stempel auf dem Schreibtisch und die Ärmelschoner, die unbenutzt neben dem kristallenen Briefbeschwerer lagen.
»Hallo«, hörte er sie plötzlich am Ende der Leitung sagen.
»Guten Morgen, mein Schatz!«, sagte er und spürte, wie sein Penis schrumpfte.
»Guten Morgen, Viktor«, sagte sie. Ihre Stimme klang abgekühlt. »Schön, dass du anrufst.«
»Bist du mir nicht mehr böse?«
»Nein. Woher denn? Du weißt ja... vor meinen Tagen bin ich immer etwas gereizt. Und du... du hast so viel um die Ohren. Überhaupt: Was macht denn der Hauskauf.«
Er erzählte ihr, dass er gleich den Vertrag unterschreiben würde und drückte sein Bedauern aus, dass sie nicht mitgefahren war. »Wo es doch um unsere Zukunft in der Sonne geht, Andrea!«, sagte er. In diesem Moment musste er wieder an Marcella denken.
Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Natürlich berichtete er ihr und sie ihm, wie die letzen Tagen nach dem Streit verlaufen waren. Andrea erzählt ihm, sie habe die Nächte durchgearbeitet und habe fast alle Abitursarbeiten korrigiert.
»Bis auf diese eine«, sagte sie.
»Ach ja«, sagte er. »Und wie sind sie ausgefallen? – Sicher macht dir dieser Abitursjahrgang wieder alle Ehre. Oder?«
»Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich damit machen soll.«
An dieser Stelle hörte er den Piepton seines Handys. Zwei-, dreimal, dann verstummte er. Vermutlich Marcella. Jetzt würde er sie bis heute Abend nicht mehr sprechen können. Er saß nackt auf der Bettkante und griff nach seiner Armbanduhr, um sie mit dem Wecker zu vergleichen. Andrea war ihm nicht mehr böse, darüber brauchte er sich also keine Sorgen zu machen, aber jetzt musste er los.
»Sie ist von diesem Schüler, der mich geküsst hat. Kannst du dich noch daran erinnern? Er hat einfach mein Gesicht in seine Hände genommen...«
»Mmm«, wiederholte er etwa alle zehn Sekunden, um zu dokumentieren, dass er ihr zuhörte. Er hatte die Schnur des Telefons so weit gedehnt, wie es irgend ging, balancierte auf einem Fuß und angelte mit dem anderen nach frischer Unterwäsche, die auf einem Stapel lag. Zum Duschen hatte er keine Zeit mehr. Zur Nassrasur auch nicht.
»Die Arbeit ist ein einziger Liebesbrief. In einem Satz erwähnt er sogar meinen Namen. Augenfälliger geht es gar nicht mehr.«
Er hatte den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und versuchte, ein Hemd aus seiner Cellophanverpackung herauszulösen, ohne Lärm zu machen. Geschah es aus Langeweile oder aus Sadismus, dass die Leute in der Hotelwäscherei unbedingt jeden einzelnen Knopf zuknöpfen mussten?
»Gestern Vormittag stand er dann vor der Haustür. Mit einem Blumenstrauß. Er sah wirklich süß aus. Wie du damals. Er ist mir nicht mehr von der Seite gewichen. Er hat hier sogar über...«
Er war schon halb in seine Hose gestiegen, als es wieder klingelte. »Mit einem Blumenstrauß«, wiederholte er und schielte auf das Display seines Handys. Es war Marcella. »So viel Dankbarkeit hätte ich von einem Abiturienten aber nicht erwartet. Die Schüler müssen dich sehr mögen. - Aber Andrea, ich komme zu spät zur Vertragsunterzeichnung. Muss losdüsen. Wie wär’s, wenn wir heute Abend noch einmal telefonieren? Dann habe ich mehr Zeit.«
»Oh. Dann ist es vielleicht schon zu spät.«
Er griff zum Handy. »Nein, es wird nicht spät.«

Dienstag, 6. März 2012

Talkshow


Flöter holte sich ein Bier und schaltete den Fernsehapparat an.
»Herr Dr. Fadenschein«, sagte der Moderator die Hände auf den Tisch gestützt, »mit dem Pulitzer-, dem Rainer-Maria-Rilke-, dem Georg-Büchner- und dem Deutschen Buchhandelspreis, um nur einige zu nennen, sind Sie der – Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll? – mithin am höchsten ausgezeichnete deutsche Autor.«
Dr. Fadenschein grinste unter seinem Hut in die Kamera. Ganz oben in der Ecke war noch ein Stück vom Richtmikrofon zu sehen, nicht viel, aber Flöter sah es ganz genau, so wie er immer alles ganz genau sah. 
»In ihrem neuen Roman«, fuhr der Moderator fort, »spielt die Figur des Henri Kleber, ein kleinbürgerlicher Voyeur, der den nächtlichen Strand von Perpignan nach kopulierenden Paaren absucht eine exzeptionelle, ja man könnte sogar sagen die handlungstragende Rolle.«
Dr. Fadenschein nickte.
Flöter konnte sehen, wie dessen Kinn dabei kurzzeitig zum Doppelkinn mutierte.
»Was interessiert Sie so sehr an dieser Figur?«
»Naja«, sagte Dr. Fadenschein genüsslich und rückte ein Stück auf dem Sessel vor, sodass sein Kopf den ganzen Bildschirm ausfüllte. »Alle Künstler wollen die Menschen in einem wirklichen, echten Augenblick sehen, in dem sie einfach nur sie selbst sind.«
»Wie beim Sex?«, fragte der Moderator.
»Ja, wie etwa beim Sex«, antwortet Dr. Fadenschein voller Gefallsucht, indem er jedes Wort in die Länge zog.
»Och komm!«, sagte Flöter, obwohl ihn niemand hörte. Es war ihm einfach so herausgerutscht. 
 Dr. Fadenschein zupfte sich am Bart. »Ein Voyer ist am Sex beteiligt, - und wiederum nicht daran beteiligt. Mir fällt hier die jaspersche Subjekt-Objekt-Spaltung ein. Eine erkenntnistheoretische Grundstruktur. Auf der einen Seite steht der Erkenntnisgegenstand, das Objekt – in meinem Roman, die vögelnden Pärchen - und auf der anderen der Erkennende, das Subjekt – der Spanner.«
»Och komm!«, sagte Flöter wieder, während Dr. Fadenschein weitersprach, und stand auf.
»Zwischen beiden besteht naturgemäß eine unaufhebbare Differenz. Durch die Beobachtung des Spanners nun wird diese Differenz zwar nicht aufgehoben, aber transzendiert. Das ist ein erkenntnistheoretischer Akt erster Güte. Ich würde sogar sagen, ein durchaus äußerst schmerzlicher existenzieller Akt, der das ganze Elend des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringt. Daher heißt der Roman ja auch ›Ich bin nicht Du!‹ Er machte eine kleine Pause, um den Hut abzunehmen. »Diese Differenz wird in den Momenten, kurz bevor sich etwas ereignet, als besonders schmerzlich empfunden. In diesen Momenten sind alle Sinne geschärft. Die Franzosen sprechen von einem chaisement. Man erlebt es z. B. in Kneipen, wenn sich eine Rauferei anbahnt, wenn die Stimmung oder die elektrische Spannung sich ändert. Sex konzentriert gleichsam alle Sinne auf sich, schärft die Wahrnehmung. Und das wollen sich Künstler nicht entgehen lassen.«
Flöter hatte sich mittlerweile vor dem Fernseher aufgebaut. „Du willst dir das nicht entgehen lassen“ sagte er und drehte den Ton ab.
Dr. Fadenschein lächelte süffisant.
Flöter stützte die Hände in die Hüfte. „Und wenn wir schon einmal dabei sind, kannst du mir gleich mal sagen, was ein Erzähler ist, der nur von sich selbst erzählt?“ Er machte eine Pause. »Sag schon! Und erspar mir bitte diesen selbstreferenziellen Scheiß.« Er machte wieder eine Pause. »Ich will wissen, was ein Erzähler ist, der nur von sich selbst erzählt! He, sag schon? Hallo! Da bist du nicht mehr schlagfertig. Wie? He! - Hallo! Ich kann es dir sagen. – Er ist entweder ein Neurotiker, dem die Krankenkasse keine Therapie mehr bezahlt, ein Psychopath, der noch nicht auffällig geworden ist oder ein Wichser, der sich die Finger nicht schmutzig machen will. Und jetzt rate mal, was du für einer bist...« 

Montag, 5. März 2012

Misstrauen

Der Feind sei mitten unter ihnen, hieß es, parasitäre Elemente, die auf ihre Kosten lebten, sie ausbeuteten und an den Rand der Verzweiflung brächten. Die Gefahr ließ sich weder übersehen, noch übergehen. Immer näher rückte sie heran, saugte alle Aufmerksamkeit auf und besetzte ihr Bewusstsein. In dieser Stimmung schwand ihnen der Glaube, dass das Leben wie gewohnt weitergehen würden und sie auch morgen noch tun konnten, wozu sie heute imstande waren. Sie mussten etwas tun, nicht um das stolzeste Tempelhaus des schönen Menschtums zu errichten, sondern um sich ihrer Kraft zu versichern, allen Schmarotzer und Schädlingen trotzen zu können.
Paul war entschlossen. Man sah, dass er nicht scherzte. Niemand lachte über ihn, als er erklärte, dass er den Goldsteins, die im größten Haus am Ende des Dorfes wohnten,  einen sehr schmerzhaften Denkzettel verpassen wolle. Diesen Saujuden! Er würde die Glocken läuten, sagte er, wenn es soweit sei.
In der Nacht zum Freitag wussten sie, dass es bald geschehen würde. Die Fenster leuchteten spät wie in der Osternacht. Die Dörfler bereitet schweigend die Äxte, Knüppel und Schaufeln vor. Zuweilen, wenn eine Schaufel klirrte, die einer berührt hatte oder irgendwo anstieß, wenn ein Brecheisen hinfiel, erschraken sie. In der Anspannung und Stille tönte oft die Luft als klängen Glocken. Pst! Ruhig! War da nicht was? Sie lauschten, und da sie ihren Ohren nicht mehr trauten, stießen sie die Fenster auf und schoben die Köpfe hinaus. Ein kalter, feiner regen ging vom Himmel nieder. Es war feucht und unfreundlich. Es schien, als nehme die Nacht kein Ende. Man sollte doch endlich das Zeichen geben, wenn es schon unvermeidlich war. Oder hatte Paul gelogen, hatte Angst bekommen, und es würde am Ende gar nichts geben?
Sie kehrten in die Stuben zurück, irrten von einer Ecke zur anderen und überprüften noch einmal das bereitgestellt Gerät. Und plötzlich schallten die Glocken. Das Kupfer erschütterte den herbstlichen Nebel und ergoss sich in alle Winkel. Die Dörfler verließen die Häuser, drängten sich zusammen und beeilten sich. Endlich! Allen wurde leichter zumute. So unerwartet aus ihrem kalten Traum geweckt, dröhnten die Glocken heiser und jagten die von harter Arbeit gekrümmten, knorrigen Gestalten vorwärts. Vor der Kirche blieben sie stehen, wo Paul in seiner braunen Uniform auf sie wartete. Die Menge erstarrte und hielt den Atem an. Der Mut war ihnen für einen Moment in der Brust zusammengesunken.
Paul hob seinen rechten holzhammerfesten Arm zum Deutschen Gruß und sagte: »Los! Schlagt sie tot.«
Das traf die Menge wie eine Peitsche, brachte die Beine in Bewegung und trieb sie besinnungslos voran, inmitten anderer drängender Leiber, keuchender Lungen und löste eine Kraft aus, die plötzlich aus dem Schlummer erwacht war wie ein Fluss unter der Eisdecke. Vor dem Haus der Goldsteins kamen die ersten zum Stehen, während die nachfolgenden weiterdrängten. Die Tür war verschlossen.
Paul rammte sie mit der Schulter, und in der dichten Finsternis, in der man das Gesicht seines Nachbarn kaum erkennen konnte, dröhnten dumpf die Schläge, krachten trocken die Bretter. Plötzlich gab die Tür nach, und es wehte ihnen wie aus einem Abgrund entgegen. Die Leute taumelten schreiend in den finsteren Flur. Die Räume fingen das Gebrüll und trugen es durch das ganze Haus. Doch wo waren die Goldsteins? Keiner wusste es. Waren sie noch da oder bereits entflohen, schlug man ihnen schon die Köpfe ab, oder fing man sie noch ein? Ein Körper schob sich auf den anderen, und jeder spürte einen heißen, vorwärtsjagenden Atem hinter sich. Die Goldsteins waren immer noch nirgendwo zu finden. Wer hatte sie gewarnt? Warst du es Hans? Oder du, Albert? Niemand wusste es. Ein tiefes Misstrauen legte sich über sie. Sie verharrten ruhig und stumm, und in der großen Stille war ihnen, als würden sie die Schläge des verräterischen Herzens ihres Nachbarn hören. Die Zukunft glich nun vollends  nicht mehr der Gegenwart und die Gegenwart nicht mehr der Vergangenheit.