Montag, 21. Januar 2013

Aura


Für Sophie war jeder Mensch mehr als das, was man gemeinhin sah. Jeden umgab eine Aura, - die aber nicht mit irgendeiner besonderen Ausstrahlung an einem bestimmten Punkt seines Lebens zu verwechseln war, die ihn umgrenzte, sondern die ständig um ihn herum war und sich stetig ausweitete. So etwas wie seine materialisierte Geschichte. Denn je älter der Einzelne wurde, um so stärker, um so größer wurde sie. Zu ihrem Bedauern konnten das nur wenige erkennen.
»Was wir auch immer unser Eigen nennen, hat auf eine magische Weise an uns teil«, pflegte sie gleich zu Beginn ihrer Bankseminare zu sagen, obwohl sie wusste, dass vier der zehn Manager daraufhin ihren Sachen einpacken und den Raum verlassen würden.
Trotz des Radaus, den die Banker aus Protest dabei machten, fuhr sie jedes Mal unbeirrt fort. »Selbst unsere abgeschnittenen Haare und Nägel bleiben weiterhin mit unserem Wesen verbunden«, sagte sie lächelnd, aber mit leicht zitternder Stimme, und dachte dabei an Geld, das auch mehr war, als das, was man gemeinhin sah, das sie aber hier nicht ansprechen würde, obwohl sie es müsste.
»Dinge, mit denen wir irgendwann einmal in Berührung gekommen sind, sind von unserer Persönlichkeit durchtränkt; auch unser Name gehört ebenso zu uns wie irgendein Körperglied.«
Spätestens jetzt standen meist zwei weitere Manager auf. Sie aber, ein Fels in der Brandung, trieb es weiter.
»Aber auch Dinge«, sagte sie jetzt sicherer, »mit denen wir persönlich nie näher zu tun gehabt haben, sind mit unserem Wesen verkettet.«
Jetzt ging sie meist zu einem der vier zurückgebliebenen Teilnehmer, ganz nahe, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte, das bald seinem Angstschweiß Platz machen würde. »Eine Fotografie zum Beispiel«, sagte sie dann und blickte ihm tief in die Augen, »die Sie darstellt, ist aufs Engste mit Ihnen verflochten, denn ihre magische Spannung strömt in Ihr Porträt oder Ihr Standbild ein.«
Sie drehte sich um und starrte auf die Wand. »Es ist doch allgemein bekannt, wie ungern primitive und einfache Menschen sich fotografieren lassen: Sie empfinden Furcht davor, ein Stück ihrer selbst in den Händen von Fremden zu lassen.«
Hier machte sie jedes Mal eine Pause und ging zu ihrer Tasche, um den Fotoapparat hervorzukramen. Dann drehte sie sich wieder um, die Kamera wie eine Pistole auf ihn gerichtet. »Sie haben doch nichts dagegen?«