Montag, 4. Februar 2013

Missratene Hoffnung

Das Land der Verheißung lag direkt vor ihnen, unbegrenzt und ohne Ende. Und am Horizont die Stadt, die sich wie ein endloser Bergrücken dahinzog. Oder waren es Dörfer, dicht an dicht; so weit entfernt, dass das menschliche Auge sie schon nicht mehr auseinanderhalten konnte? Und dahinter erst die Stadt? Die goldenfunkelnden Kirchenkreuze, die zuweilen wie Funken aufblitzen, ließen erahnen, dass hier etwas Großes begann. Ja, es erschien ihnen, als ob gemünztes Gold frei in der Luft schwebte. Und alles war in eine tiefe Stille getaucht, in der sich selbst das Gezwitscher der Singvögel verlor.
Der Atem stockte Frazer in der Brust und staunend rief er aus: »Mein Gott, diese unermessliche Weite!«
Er fiel seinem Kameraden in die Arme, umfasste ihn und tanzte, gerade weil der Krieg noch in seinem Herzen war. Dann lief er voraus und scheuchte die Vögel am Wege auf. Es gab keinen Stillstand mehr, keine Ruhe. Das Leben konnte nun beginnen. Schon sah er es überall pulsieren. Wie in einer munter klappernden Mühle das Getreide in Mehl verwandelt wird, so würde auch bei ihm aus allen Abfällen und jedem Dreck das bare Geld herausgemahlen werden. Er spürte, wie ihm vor Erregung der Kopf schwirrte. Aus seinen blitzenden Augen sprach eine gewisse unklare Ungeduld, die seine schwärenden und wundenübersäten Beine schneller und  immer schneller vorantrieb, daneben aber auch etwas anderes, eine seltsame, irre Unruhe, die ihn nach jeder gewonnen Schlacht geplagt hatte, genährt aus der Gewissheit, dass der Sieg die nächste Schlacht gebar. Es war lediglich eine Frage der Zeit.
Als er den Berg hinunterstürmte, als ob es um sein Leben ging, überfielen ihn alte Kindheitserinnerungen, undeutlich und verschleiert, aber einen Satz hörte er klar: »Pass auf mein kleiner Frazer, die Gefahr, überfahren zu werden, ist am größten, wenn man gerade eben einem Wagen ausgewichen ist.« Das hatte ihm der Großvater mit auf den Weg gegeben, als Frazer zum ersten Mal allein auf den großen Jahrmarkt im Nachbardorf hatte gehen dürfen.
Dieser Satz ließ ihn jetzt stolpern, wie er glaubte. Er stand auf und fiel abermals. Er lachte über seine Ungeschicklichkeit, aber in Wahrheit war ihm danach, laut zu heulen. Wegen des erbärmlichen Zustandes seiner Uniform, wegen der Wunden an seinen Beinen, aber vor allem, weil die Welt, das Leben ihm auf einmal unerträglich vorkam.

Montag, 21. Januar 2013

Aura


Für Sophie war jeder Mensch mehr als das, was man gemeinhin sah. Jeden umgab eine Aura, - die aber nicht mit irgendeiner besonderen Ausstrahlung an einem bestimmten Punkt seines Lebens zu verwechseln war, die ihn umgrenzte, sondern die ständig um ihn herum war und sich stetig ausweitete. So etwas wie seine materialisierte Geschichte. Denn je älter der Einzelne wurde, um so stärker, um so größer wurde sie. Zu ihrem Bedauern konnten das nur wenige erkennen.
»Was wir auch immer unser Eigen nennen, hat auf eine magische Weise an uns teil«, pflegte sie gleich zu Beginn ihrer Bankseminare zu sagen, obwohl sie wusste, dass vier der zehn Manager daraufhin ihren Sachen einpacken und den Raum verlassen würden.
Trotz des Radaus, den die Banker aus Protest dabei machten, fuhr sie jedes Mal unbeirrt fort. »Selbst unsere abgeschnittenen Haare und Nägel bleiben weiterhin mit unserem Wesen verbunden«, sagte sie lächelnd, aber mit leicht zitternder Stimme, und dachte dabei an Geld, das auch mehr war, als das, was man gemeinhin sah, das sie aber hier nicht ansprechen würde, obwohl sie es müsste.
»Dinge, mit denen wir irgendwann einmal in Berührung gekommen sind, sind von unserer Persönlichkeit durchtränkt; auch unser Name gehört ebenso zu uns wie irgendein Körperglied.«
Spätestens jetzt standen meist zwei weitere Manager auf. Sie aber, ein Fels in der Brandung, trieb es weiter.
»Aber auch Dinge«, sagte sie jetzt sicherer, »mit denen wir persönlich nie näher zu tun gehabt haben, sind mit unserem Wesen verkettet.«
Jetzt ging sie meist zu einem der vier zurückgebliebenen Teilnehmer, ganz nahe, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte, das bald seinem Angstschweiß Platz machen würde. »Eine Fotografie zum Beispiel«, sagte sie dann und blickte ihm tief in die Augen, »die Sie darstellt, ist aufs Engste mit Ihnen verflochten, denn ihre magische Spannung strömt in Ihr Porträt oder Ihr Standbild ein.«
Sie drehte sich um und starrte auf die Wand. »Es ist doch allgemein bekannt, wie ungern primitive und einfache Menschen sich fotografieren lassen: Sie empfinden Furcht davor, ein Stück ihrer selbst in den Händen von Fremden zu lassen.«
Hier machte sie jedes Mal eine Pause und ging zu ihrer Tasche, um den Fotoapparat hervorzukramen. Dann drehte sie sich wieder um, die Kamera wie eine Pistole auf ihn gerichtet. »Sie haben doch nichts dagegen?«