Vor der Kuchenvitrine bleib er stehen und starrte in gebeugter, geradezu unterwürfiger Haltung hinein. Sie sah wie er mit einer Wirgönnenunsmalwasmiene, die nach Mottenkugeln und Kölnischwasser stank, auf den gammeligen Käsekuchen unter der Plastikglocke deutete.
»Der sieht gut aus«, hörte sie ihn sagen, und fragte sich, wie das alles zusammenpasste. War er denn blind? Sah er nicht, dass der Kuchen schon hinüber war? Wie vertrug sich diese glibberige Masse mit dem Whiskey, den er gerade bestellt hatte? Und wie waren seine demütige Haltung und sein erwartungsfroher Gesichtsausdruck beim Anblick dieser braunen Pampe zu deuten? Das passte nicht zu dem kernigen Kerl, für den sie ihn hielt, für den sie ihn gehalten hatte.
Er ist sicher ein Schlappschwanz, dachte sie, der wie all die anderen muskelbepackten Typen beim kleinsten Problem Reißaus nehmen; so ein Lehrertyp, der vorgibt alle seine Schüler zu lieben, in Wahrheit aber nur sich selbst lieben kann.
Aber vielleicht täuschte sie sich? Und alles war ganz anders. Wie bei Konzerten. Wenn man nicht wüsste, dass die Leute dort wegen der Musik oder den Typen auf der Bühne ausflippten und manchmal sogar zusammenbrachen, wenn man nur die Bilder der verzückten Gesichter sähe, wie bei alten Beatlesfilmen, könnte man leicht meinen, man hätte es mit den Hinterbliebenen einer Katastrophe zu tun, mit lauter schmerzverzerrten Gesichtern, die Trauer und Entsetzen ausdrückten. Keine Handlung, keine Ausdrucksform war eindeutig. Man musste alles im Zusammenhang sehen. Oder man brauchte millimetergenaue Kartographien des menschlichen Körpers, besonders des Gesichts und seiner Muskulatur, um Unterschiede zwischen den einzelnen Ausdrucksformen feststellen zu können. Das aber war für sie zu mühsam. Das würde sie zu viel Zeit kosten und Nerven.
Sie stand auf, packte ihre kleine rosa Tasche, ihren Mantel, blickte schnell nach rechts und nach links, rief ihm »Ich geh mal für kleine Mädchen« entgegen und verschwand auf der Treppe, die sie um Hinterausgang führte.
aus:
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