Es kam ihr alles unwirklich vor: der Fastnachtsbrunnen mit seinen grotesken Gestalten, die sich im Sprühnebel versteckten und der gewaltige Dom, eingetaucht in ein seltsames Gebläse, das von vier Musikern in schwarzen bodenlangen Gewänder stammten, die über den Leichhof glitten. »Wie können all diese Leute«, sie zeigte auf einen der Musiker, dessen Sousaphon sich wie eine Riesenschlange um seinen Körper gewickelt hatte, »ihr Leben einfach fortsetzen, während ein Verbrechen geschehen ist. Wenn wir nichts unternehmen, wird Pfeiffer niemals seine gerechte Strafe erhalten.«
»Gerechte Strafe«, wiederholte Helga abfällig, als sie in die Augustinerstraße einbogen. »Das ist doch nur eine Redensart. Die Auffassung, dass das Leben die gerechte Strafe oder den gerechten Lohn bereithält, dass allem eine tiefere Bedeutung zukommt als die, die wir ihm bemessen, ist doch nur tröstlicher Aberglaube.«
»Aber Helga«, Lucia blieb stehen, »glaubst du denn nicht an Gerechtigkeit?«
»Komm«, sagte Helga milde und hakte sich bei ihr unter; ihre dünnen, knochigen Fingern nahmen sich aus wie die eines kleinen Mädchens. »Ich bin müde. Die ganze Sache hat mich viel Energie gekostet, und ich wünsche mir jetzt nur eine warme Suppe in der gemütlichen Weinstube, von der du mir erzählt hast.«
Vor der Ignatzkirche blieb Lucia stehen und wartete darauf, dass sich ihre Gereiztheit legte. »Hier ist es«, sagte sie und zeigte auf das Wirtshausschild gegenüber, auf dem ein Ritter abgebildet war.
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© Christian Kohl |
Die Täfelung aus Eichenenholz bedrängte Lucia zunächst von allen Seiten, als sie in den »Templer« eintrat, doch als Pierre, Mainz’ prominentester Korse, mit »Efin, ma Chéri« auf den Lippen ihr aus der Küche entgegenstürmte und sie mit Küsschen bedachte, fühlte sie sich frei und geborgen. »Isch«, begann er mit einem französischen Akzent, der die Melodie der Mainzer Mundart nachzuahmen schien, »abe gewusst, dass du eute kommst. Es gibt Cassoulet!« Er hielt sie fest und blickte ihr in die Augen. »Aber was hast du?« Lucia presste den Mund zu einem dünnen Strich zusammen und wich zurück.
Erst jetzt schien er Helga zu bemerken. »Du hast mir deine Freundin noch nicht vorgestellt.« Er beugte sich zu ihr, um auch sie zu küssen. »Nun, meine Schönen«, sagte er und verschwand hinter dem Tresen, »ist es Zeit für einen Aperitif.« Er ließ keine Widerrede zu und drückte jeder der beiden alten Damen ein Glas Champagner in die Hand. Während er Lucia den Stuhl an ihren Lieblingstisch heranrückte, gestattete sie sich das Lächeln, das sie so lange unterdrückt hatte. Erst als auch Helga Platz genommen hatte, setzte er sich dazu. »Du weißt«, sagte er eindringlich, »du kannst mir alles sagen, was dich bedrückt.«
Lucia zögerte, doch dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte.
Er hatte seinen Champagner ausgetrunken und beäugte Lucias unberührtes Glas. »Um dein Ziel zu erreichen«, sagte er, »lauf in die entgegengesetzte Richtung.«
Sie konnte nicht mehr fragen, wie er das meinte, denn in diesem Augenblick kam die Kellnerin mit einer großen irdenen Kasserolle, und eine Viertelstunde lang wandte sich alle Aufmerksamkeit, mit anerkennenden Worten von allen Anwesenden, dem Cassoulet zu, und Pierre, hocherfreut, revanchierte sich mit der Geschichte, wie er die unerlässliche Zutat, die eingemachte Gans, in Straßburg erstanden hatte. Als die Mahlzeit beendet war, nahm er den Faden wieder auf. »Peiffer ist ein Spieler«, sagte er. »Du musst ihn dort packen, wo er es nicht erwartet, dort, wo seine Leidenschaft tobt.«
»In der Spielbank?«, fragte Lucia unsicher.
»Nein, er spielt Poker, und das mindestens zwei Mal die Woche.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Mit Didier«, sagte er schließlich und zwinkerte ihr zu. »Er nimmt dich sicher mit.«
»Ich und Poker«, entgegnete Lucia leicht abwehrend und stürzte ihren Champagner hinunter. »Mit Glücksspiel habe ich rein gar nichts am Hut!« Ihre gebrochene Rippe begann wieder zu schmerzen.
»Du sollst ja auch nicht spielen«, sagte Pierre und stand auf, »sondern ihn zum Pokerspiel begleiten«. Sein Gesicht lag jetzt im rötlichen Schein der Nachmittagssonne, die sich durch die beiden Fenster in den »Templer« drängte. »Sozusagen als Glücksfee.«
Lucia starrte Helga an, erwartete, dass diese Widerspruch erhob und sie zum Arzt oder ins Bett schickte oder irgendetwas sagte wie »In deinem Zustand ist es nicht angemessen, wenn du dich in weitere Abenteuer stürzt.« Doch es kam nichts dergleichen, noch nicht einmal ein unmerkliches Kopfschütteln. »Und wohin?«, fragte sie zögerlich. Sie stellte sich ein verruchtes Lokal mit ebenso verruchten Gestalten vor, die trinkend und rauchend um einen runden Tisch saßen und sich neben schmutzige Schoten abgegriffene Spielkarten entgegenwarfen. Bei dem Gedanken war ihr etwas mulmig zumute. Vielleicht sollten sie und Helga jetzt gehen?
»Ich weiß nicht, ma chérie«, antwortete Pierre und grinste. »Das wirst du schon noch sehen.«
Sie wusste, dass er etwas vor ihr verbarg, das sah sie an seinen Augen.
Er ging hinter den Tresen, nahm das Telefon und verschwand damit in der Küche. Nach einer Weile kam er mit einer noch heißen Tarte Tartin in der Hand zurück und sagte: »Ich habe mit Didier telefoniert.« Er stellte den Kuchen auf den Tisch. »Du hast Glück, ma Belle. Heute Abend ist ein Pokerspiel. Didier holt dich hier ab. Die Tarte wird euch beiden bis dahin die Zeit versüßen.«
Pierre hatte damit vollendete Tatsachen geschaffen. Lucia musste nun bleiben und ließ sich mit dem unbeschreiblich wohlschmeckenden Apfelkuchen verwöhnen, der auch Helga zu schmecken schien, was unschwer an ihrem ungewöhnlich großen Appetit abzulesen war, der sie vier große Stücke verschlingen ließ, zwei mehr als sonst im Wiesbadener Maldaner. Während die beiden Damen aßen, zeigte er ihnen einige ausgefallene Stücke seiner umfangreichen Kaffeemühlensammlung, der größten, wie Lucia wusste, weit und breit. Dabei machte er das ein oder andere Kompliment, das Helga, sehr empfänglich für Höflichkeit und Schmeichelei, immer wieder zum Jauchzen brachte. Pierre’s liebenswürdig-gewinnende Wesensart schien ihr nicht unangenehm zu sein. Mehr noch: Lucia hatte ihre Freundin noch nie so munter erlebt.
»Die Mainzer!«, seufzte Helga immer wieder, als sehne sie sich nach einem anderen Leben. »Die Mainzer!« Und so war sie auch nicht empört darüber, dass Lucia und sie, die eingefleischte Wiesbadenerin, von einem Mann, der plötzlich mitten im »Templer« stand, mit »Wo sind dann die Meenzer Mädcher« begrüßt wurden. Sie stieß aber ein erschrecktes Lachen aus, als sie sich umdrehte. Denn hinter ihr stand ein männliches Ungetüm, das mit dem kleinen Kopf aus seinen Muskeln schaute wie eine Schildkröte aus ihrem Gehäuse. Trotz seines eleganten Anzuges, warf sie ihm einen raschen Blick konzentrierter Verachtung zu und drehte sich wieder um.
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Er setzte sich neben sie, rieb sich die rechte Hand mit der linken und sagte, die Ellbogen auf den Tisch gestützt: »Isch bin der Dieter!« Als er zu sprechen begann, zuckte Helga zusammen und tastete nach ihrer Tasche. »Didier«, korrigierte Pierre, was Helga, aber auch Lucia leicht aufatmen ließ.
»Wer von euch beiden Hübschen«, fragte Dieter, »ist denn mein Maskottchen?« Er roch stark nach Eau de Toilette, Egoist, ein Duft aus den Achtzigern, der sicher seine Alkoholfahne überdecken sollte, die Lucia wenig später in die Nase stieg.
»Ich«, antwortete sie zögerlich und beugte sich zu ihm hinüber, um ihm die wenigen unbeholfenen Sätze zu sagen, die sie sich zurechtgelegt hatte. Doch er wusste schon Bescheid, nickte ab und sagte: »Den Pfeiffer, den kennt hier jeder!« Er brabbelte etwas von Spielerschulden und Ehre, was Lucia nicht verstand, um dann in die Frage einzumünden: »Was wollt ihr zwei Lotusblüten denn von dem? Der ist doch verheiratet.« Er machte eine Pause und sah Lucia mit durchdringenden Basedowschen Augen an, die etwas an sich hatten, das sie auf der Hut sein ließ. Dann fuhr er lachend fort: »Außerdem sind Frauen nicht ganz sein Fall!«
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Niemand ist so veranlagt, dass man ihm trauen könnte! – Das ist die fixe Idee der Mainzer Grabrednerin Lucia Herzer, einer pensionierten Lehrerin, die hinter jedem Trauerfall einen Mord vermutet. Sehr zum Missfallen ihrer Wiesbadener Freundin Helga. Denn die selbst ernannte Mainzer Miss Marple geht dabei fast immer in die Irre. Sie beschuldigt unbescholtene Bürger und lässt sich zu waghalsigen Aktionen verleiten, die für die beiden Freundinnen nicht immer ungefährlich sind. Doch auch ein blindes Huhn wie sie findet manchmal ein Korn.
Dieser Stadtkrimi, an dem die Leser der „Stadtausgabe Mainz“ als Ideengeber mitgewirkt haben, ist mehr als nur eine bloße Aneinanderreihung von Aha-Erlebnissen – etwa wenn man die Kneipe an der Ecke oder bestimmte Mainzer Persönlichkeiten wiedererkennt. Er ist urkomisch und spannend zugleich.