LUSTHÄNGEN



Ein junger Mann ist gefesselt, trägt Damenwäsche - und ein Seil um den Hals. Die Schlinge zieht sich zu. Durch sein Hirn irren mahnende Worte: „Denk daran, dass du beim Orgasmus schon mal die Kontrolle über die Bein- und Fußmuskulatur verlierst!” Er hört noch ein Flüstern, röchelt kurz, dann ist Schluss. Buchstäblich atemberaubend beginnt der Roman. Grabredner Philipp Beck, einziger seines Berufsstands in der Stadt, soll zu Stefans Beisetzung sprechen. Deswegen forscht er in dessen Bekanntenkreis nach Lebenshintergründen und trifft dabei auf eine Clique, die Stefans Tod merkwürdig kalt lässt. Im Mittelpunkt des Grüppchens stehen Eva, eine sexuell höchst aktive Blondine und Marina, die von jungfräulicher Reinheit träumt und sich Barbies als Fetisch ausgeguckt hat. Eine groteske Kriminalgeschichte voll abgründiger Ironie und hintergründigem Humor, die einem regelrecht den Boden unter den Füßen wegzieht. Was bleibt, ist die nackte Angst vor dem Augenblick, in dem das wahr werden könnte, was alle doch so verzweifelt zu wünschen vorgeben.

„Dem Romandebütant ist viel mehr gelungen als nur ein Krimi. Seine Geschichte um Sex, Tod, Gottvergessenheit und die Unfähigkeit zu lieben ist mitreißend erzählt, voller Humor, aber auch verstörender Szenen.” (Gerd Blase, Mainzer Rheinzeitung)

„Hubert Neumanns orgiastisch-ironische Kriminal-Satire, eine atemlos-akrobatische Roman-Installation von vibrierender Intensität, intelligent und einfach wunderbar poetisch. Absolut empfehlenswert.” (Holger Dauer, www.tour-literatur.de).

"Lusthängen" wurde auf Platz 9 der Leser-Bestenliste 2008 der Wochenzeitung DIE ZEIT gewählt. (http://tinyurl.com/okkcx4) (http://tinyurl.com/p8qoxt)


Über den Autor: Hubert Neumann ist Historiker, Autor und Dozent für wissenschaftliches Schreiben. Er lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Mainz, in der auch „Lusthängen” angesiedelt ist. Seine Erfahrungen als Messdiener, Barmann und Redenschreiber haben in diesem Roman ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Für seinen historischen Roman „Der Wolkenschieber” wurde er 2001 mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet.

Bestellung signierter Exemplare mit persönlicher Widmung hier auf der Seite unter dem Reiter »Kontakt«.


Auszug: 

Beck kaute gerade kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl und zog es durch die Zähne, als das Telefon klingelte.
»Ja!« brummelte er unverständlich in den Hörer.
»Wer spricht da?« hörte er eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung fragen. Er presste die weiße Masse unter die Zunge und legte seinen Kopf leicht zurück. »Wer spricht da?« fragte er zurück, dabei achtete er darauf, dass er nichts von dem weißgekauten Öl verschluckte.
»Sie haben sich zu melden!« forderte ihn die Stimme hart und unfreundlich auf.
»Sie haben angerufen. Sie haben sich zu melden!« gab er verärgert zurück. Das Öl lief ihm am rechten Mundwinkel hinab. »Sie stören meine Intimsphäre!«
»Mein Gott!« stieß die Frau spöttisch hervor. »Sie haben eine Intimsphäre? – Das tut mir aber Leid!« Mit einem lauten Krachen legte sie auf.
Er schluckte wütend. Viel zu viel Sonnenblumenkernöl schluckte er hinunter, und wurde noch wütender.
Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen nahm er auf nüchternen Magen einen Esslöffel davon, kaute es und gurgelte damit. Zwanzig Minuten lang. Dabei durfte ihn niemand stören. Wirklich niemand! Auch nicht seine Lebensabschnittsgefährtin, wie er seine jeweilige Freundin abfällig nannte, falls er gerade eine hatte. Und es waren nicht viele gewesen, seitdem er vor zehn Jahren mit dem Ölkauen angefangen hatte. Genauer gesagt, drei an der Zahl. Jede von ihnen hatte allmorgendlich mehr als zwanzig Minuten warten müssen, bis er fertig gekaut, den Mund ausgespült und die Zähne geputzt hatte, bevor sie ihn hatte ansprechen können. Vom Frühstücken ganz zu schweigen. Zwanzig Minuten am Morgen aber waren, bei aller Liebe, wenn es denn Liebe gewesen war, was sie zusammengebracht hatte, auf die Dauer einfach zu viel, als dass man sie mit genervtem Warten hätte vergeuden können. Mit drei Minuten. Ja, damit konnte eine Frau leben. Aber gleich zwanzig? Jeden Tag. Und das in einer Einzimmerwohnung. Wie viele Morgenträume hätte sie noch haben können, anstatt von einem schmatzenden und Öl gurgelnden Frühaufsteher geweckt zu werden?
Die erste, Helga hieß sie, hatte die Prozedur dreiundzwanzigmal über sich ergehen lassen, dann war sie ausgerissen. Sieben Stunden und vierzig Minuten, hatte sie vorher überschlagen, hatte er ihr so gestohlen.
Roswitha, der nächsten, hatte er einen ganzen Tag gestohlen. Genau zwei Monate und elf Tage hatte ihre Liebe gedauert, bis ihr der Verlust bewusst geworden war. Danach hatte er sie nicht mehr halten können. »Du hast mir einen ganzen Tag meines Lebens geraubt!« hatte sie ihm im engen und muffigen, nach Ratten, Tauben und Schabenvertilgungsmittel stinkenden Treppenhaus in den fünften Stock hinauf geschrieen. Dabei hatte sie einen Penner umgestoßen, der sich gerade auf der fünfundfünfzigsten Stufe rekelte, weil er Schutz vor dem Regen gesucht hatte. Fünf Stockwerke, hatte sie gedacht, als sie die Haustür hinter sich zufallen hörte. Das sind einhundertundfünf Stufen. Und die hoch- und runtersteigen. Das sind noch einmal mindestens dreieinhalb Minuten. Und das in zweieinhalb Monaten mehr als zweiundsiebzigmal. Bei dem Gedanken hatte es ihr fast zwei weitere Minuten lang vor den Augen geschwindelt ...
Karin schließlich hatte es immerhin auf mehr als drei Monate mit ihm gebracht. Denn gleich nach der ersten Nacht hatte er ihr – noch vor dem Gurgeln – weitsichtig erklärt: Während er Öl kaue, dürfe er auf keinen Fall sprechen, geschweige denn essen. »Kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl«, hatte er ihr dann mit ernster Miene eröffnet, »ist gegen Pickel. Im Mundraum löst es nämlich sämtliche schädlichen Keime und Bakterien auf, die sich über Nacht im Körper angesammelt haben. Es entgiftet ihn sozusagen und wird selbst giftig. Sehr giftig sogar. Deshalb spuck ich es nach jeder Prozedur in diesen Kanister.« Er hatte auf einen großen, rostigen Behälter unter der Spüle gezeigt. »Ich verschließe ihn fest und bringe ihn alle zwei Wochen dienstags zum Schadstoffmobil, an der Massai-Bar, damit es mit anderem Problemabfall und dem toten Kleingetier aus privaten Haushalten entsorgt wird.« Um dem Gesagten Bedeutung zu verleihen, hatte er eine Weile geschwiegen und dann mit noch ernsterer Miene hinzugefügt: »Und wenn ich beim Ölkauen spreche, das siehst du doch ein, könnt ich das giftige Öl verschlucken – Himmel! Wer weiß, was dann geschieht!« Das alles hatte auf Karin zwar irgendwie einen starken Eindruck gemacht, anfangs sogar sehr stark, doch nach mehr als dreißig verlorenen Stunden war auch der stärkste Eindruck verblasst, und nach der dreiunddreißigsten war auch sie weg gewesen.

Keine hatte ihn verstehen wollen. Auch und schon gar nicht diese blöde Ziege am Telefon. Wegen ihr hatte er jetzt dieses giftige Öl verschluckt! Wie ein Derwisch sprang er in der kleinen Wohnung herum und wusste nicht, was er machen sollte.
Ich werde sterben, dachte er, ließ alle Vorsicht fahren und spuckte das restliche Öl in seinem Mund, anstatt in den sicheren Kanister, in die Kloschüssel. Ihm war speiübel. Er steckte den Finger in den Hals. Irgendetwas musste doch noch zu retten sein? Der Würgereiz war da, doch das giftige Öl wollte nicht wieder aus ihm heraus. Er beugte sich über die Kloschüssel. Er kitzelte sein Zäpfchen. Fehlanzeige. Wütend schob er nun alle seine Finger, bis auf den Daumen, in den Hals. Wieder Fehlanzeige. Vielleicht half eine Klobürste? Ein Löffel? Ein Kochlöffel? Genau justiert. Der Deostick hatte die exakte Passform für seinen Mund! Er steckte ihn hinein. Hantierte damit herum, während er sich mit der linken Hand an der Klobrille abzustützen versuchte und auch daran riss. Im Eifer des Gefechts glitt er immer wieder davon ab. Mehrmals wäre er fast mit dem Kinn und dem Stick im Mund daraufgeknallt. Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre! Die ganzen teuren Kronen! Das neue Implantat. Es reichte schon, dass er bei diesem mühsamen Verfahren den Klosettsitz demolierte. Dann endlich kam es: eine ätzende Brühe aus Galle und Schleim. Er würgte. Er würgte fast den Magen selbst heraus. Aber dann kam nichts mehr, nur der Brechreiz dauerte noch an; der Magen krampfte sich immer noch schmerzhaft zusammen. Er richtete sich auf und inspizierte die Flüssigkeit in der Kloschüssel. Ob das giftige Öl dabei war, konnte er nicht feststellen. Schnell drückte er auf die Wasserspülung, damit das Gift weggespült wurde. Schnell ging er auch zur Dusche, um den Mund mit dem Brausekopf zu entseuchen. Er spülte ihn aus. Mehrmals. Erst mit Leitungs-, dann mit Mundwasser. Er putzte sich die Zähne. Hektisch. Bis das Zahnfleisch blutete. Spülte den Mund wieder aus. Setzte sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass etwas passierte. Eine ganze Kanne Kamillentee trank er, während er wartete, dabei zappelte er auf seinem Stuhl unruhig wie ein Suppenkasper hin und her. Ich werde sterben, dachte er immer wieder. Gleich werde ich sterben! – Doch er starb nicht. Nicht nach der ersten, nicht nach der zweiten und nicht nach der dritten Kanne Kamillentee. Auch nicht, nachdem er zehnmal aufs Klo gerannt war.
Wenn die Gifte jetzt noch nicht ausgespült worden sind, mutmaßte er nach eineinhalb Stunden, sind sie schon ins Gewebe und in den Körper übergegangen. Dann hilft nur noch kaltgepresstes Sonnenblumenkernöl, folgerte er lächelnd. Siegessicher nahm er wieder einen Esslöffel dieses kostbaren Öls und begann zu kauen. Eine Stunde lang würde er kauen, nahm er sich vor.
Plötzlich klingelte das Telefon. Er stöhnte, dabei achtete er darauf, nichts zu verschlucken. Schon wieder, dachte er. Soll es doch klingeln. Ich werde nicht drangehen. Wer weiß, was dann passiert?
Und er ließ es klingeln. Fast eine halbe Stunde lang ließ er es klingeln, mit kurzzeitigen, aber für ihn unerheblichen Unterbrechungen, bis er völlig entnervt mit dem Öl im Mund den Hörer abnahm und ein undeutliches »Ja« hineinblubberte.
»Beck? Sind Sie das?« Dieses Mal vernahm er eine Männerstimme.
»Ja!« wiederholte er deutlich und verschluckte etwas Öl. Er war nervös. Er hatte schweißkalte Hände und rote Flecken im Gesicht.
»Ist alles in Ordnung?« Die Stimme klang sanft in seinem Ohr. »Was haben Sie denn?«
»Nichts!« presste Beck heraus. »Einen Moment!« Er legte den Hörer zur Seite, stürmte ins Badezimmer, beugte sich über die Toilettenschüssel und spuckte das gesamte Öl hinein. Kurz nur spülte er den Mund aus und ging, ohne die Zähne zu putzen, mit einem schalen Geschmack auf der Zunge wieder zum Telefon zurück.
»Hier bin ich wieder«, sagte er etwas säuerlich.
»Ja, lieber Herr Beck, was machen Sie denn?«
Beck gab keine Antwort. Er versuchte, so wenig wie möglich zu sprechen und erst recht nicht zu schlucken. Schließlich mussten noch Reste des giftigen Öls in seinem Mund sein.
»Komme ich ungelegen?« fragte die Stimme beunruhigt. War Beck doch sonst so entgegenkommend, so freundlich und redselig, ja geradezu aufdringlich. Er fragte immer nach dem werten Befinden und ließ nicht eher locker, als bis alle Geschehnisse, gar alle Gefühlsschwankungen der letzten Tage aufgeführt und erörtert waren. Aber heute Morgen war er so zurückhaltend, so ...
»Nein«, log Beck wenig überzeugend.
»Sie sind heute so wortkarg, mein lieber Herr Beck«, versuchte der Anrufer Becks seltsamem Gebaren auf die Spur zu kommen und fügte halb scherzhaft hinzu: »Wortkargheit schadet Ihrem Berufsstand!«
Doch Beck schwieg weiterhin und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Nun gut«, schien der Anrufer nachzugeben. »Ich mache es kurz. Ich habe einen Auftrag für Sie.« Er wartete auf eine Reaktion.
Beck rührte sich nicht, wagte kaum zu atmen. Starr stand er, den Hörer in der Hand, im winzigen Flur und zerbrach sich den Kopf darüber, ob er das Telefonat, ohne noch irgend etwas zu entgegnen, jemals hinter sich bringen könnte oder ob er den Hörer kurzerhand auflegen und später, wenn sie sich treffen würden, erklären sollte, dass er, warum auch immer, nicht habe telefonieren können, oder, um allem künftigen Ärger entgegenzutreten, ob er ihn dann einfach belügen sollte, dass ihm der Hörer aus der Hand geglitten sei. Auf keinen Fall würde er sagen können, dass er gerade Sonnenblumenkernöl im Mund gehabt hätte. Wie würde er dann dastehen?
»Einen delikaten Auftrag!« fügte der Anrufer nach einer Weile gewichtig hinzu, um dann gottlob ohne Pause fortzufahren. »Es handelt sich um einen Freitod. Ein Student. Seine Eltern, sie leben in Brasilien, haben mich telefonisch mit der Bestattung betraut. Sie soll übermorgen stattfinden. Und Sie ... Sie sollen die Trauerrede halten. – Schaffen Sie das?«

Beck nickte zustimmend, obwohl ihn Kiefer, der Inhaber des Bestattungsinstituts am Schillerplatz, am anderen Ende der Leitung nicht sehen konnte. Natürlich schaffte er das. Schließlich war er professioneller Grabredner. Der einzige in der Stadt. Trauerbegleiter, wie man seit neuestem dazu sagte. Seit nunmehr zehn Jahren war er das. Seitdem er mit dem Ölkauen angefangen, das Theologiestudium abgebrochen und sein Leben von Grund auf geändert hatte, war er das. In jeder nur erdenklichen Form hatte er das Leben der Verschiedenen, wie er die Toten beschönigend nannte, gewürdigt, hatte Trauerreden gehalten, auf Wunsch sogar Todesanzeigen verfasst, Kondolenzschreiben, Nachrufe, Gedenkreden und Danksagungen, kurzum alle Texte, die mit dem Tod zu tun hatten. – Wenn er es nicht schaffte, wer dann?
»Schaffen Sie das?« wiederholte der Anrufer.
Beck versuchte, nicht zu schlucken. »Selbstverständlich!« gab er mit leicht geöffnetem Mund, ohne den Kiefer zu bewegen, zurück.
»Sie haben aber nicht mehr viel Zeit.«
»Ich weiß.«
Philipp Beck brauchte Zeit. Für alles brauchte er Zeit. Viel Zeit. Auch und besonders für seine Trauerreden. Ausgiebig und mit größter Sorgfalt sprach er mit den Hinterbliebenen, ortete die Verhältnisse, ja, stellte regelrechte Nachforschungen über das Leben der Verstorbenen an. Manchmal kamen sie sogar polizeilichen Ermittlungen gleich. Alles wollte er wissen, um eine möglichst gute Rede halten zu können. Er dachte sich in die Toten hinein, um ihren Stärken und Schwächen, ihren Fehlern, Sehnsüchten und unerfüllten Träumen gerecht zu werden, und ehe er sich versah, war er mit ihnen eine eigenartige, fast liebevolle Beziehung eingegangen, kannte sie besser, als manch einer ihrer guten Freunde. Wurde ihm zu einer gelungenen Rede gratuliert, sie waren meist gelungen, und wurde er dann gefragt, wie er die oder den Verstorbenen denn so treffend hätte beschreiben können, er habe sie oder ihn doch gar nicht gekannt, pflegte er bescheiden, aber sibyllinisch zu antworten: »Der Tod ordnet so manche Dinge!« Aber es war nicht nur der Tod, nein, es war auch er, Beck, der die Dinge ordnete. Mit viel Mühe und viel Fleiß. Und Zeit! Viel Zeit.
Nicht schon wieder konnte er eine Trauerrede ablehnen, weil er zu wenig Zeit hatte. Das Bestattungsinstitut am Schillerplatz würde ihn dann nicht mehr engagieren. Nie mehr, das wusste er. – Ein Auftraggeber weniger. – Auch wenn er der einzige Trauerbegleiter in Mainz war. Jenseits des Rheins, in Wiesbaden und Frankfurt gab es genügend wie ihn. Außerdem brauchte er das Geld. Der Webshop, den er seit sieben Jahren nebenbei unterhielt, warf schon lange nicht mehr so viel ab, als dass es für die Miete gereicht hätte. Die Zeit für Engelsfiguren aus dem Internet war einfach vorbei. Zumindest erstand sie kaum jemand mehr bei ihm. Mochten sie auch noch so ausgefallen sein.
»Ich werde es machen!« sagte er entschlossen. Die Ölreste in seinem Mund hatte er vergessen. »Wannnnn«, zog er die Buchstaben in die Länge, um nach einer Formulierung zu suchen, in der das Wort Selbstmord oder Freitod nicht vorkam. Denn eine Grabrede für einen Selbstmörder war eine heikle Angelegenheit, selbst und gerade für Beck, der ein Meister der Euphemismen, ein Schönredner par exellence war. Er musste diese beiden Worte umschiffen. Das erwarteten die Hinterbliebenen von ihm. Er konnte sie doch nicht mit dem schalen Geschmack der Schuldgefühle am Grab stehen lassen. »Wann ist es denn passiert?«
»Keine Ahnung! Man hat ihn am Freitag gefunden.«
»Freitag«, wiederholte Beck, als ob es irgendeine Bedeutung hätte. »Und wie hieß der Verstorbene?«
»Stefan Neubauer.«
»Stefan Neubauer«, wiederholte er. Der Name sagte ihm nichts. »Hat er Verwandte in der Stadt, die ich befragen kann?«
»Nein. Er hat keine Verwandten mehr. Zumindest nach Angabe des Vaters nicht. Das ist neben noch ein paar kleinen Unregelmäßigkeiten, über die ich Ihnen jetzt leider noch nichts Genaues sagen kann, ja das Delikate. Und auch seine Eltern wollen, Gott weiß warum, nicht mehr mit dem Tod ihres Sohnes behelligt werden. Es ist also nicht dienlich, sie in Brasilien anzurufen.« Er schwieg für einen Moment. »Halten Sie doch einfach eine Standardrede. Mehr wird von Ihnen in diesem Fall auch nicht erwartet.«
»Das kann und möchte ich nicht«, erwiderte Beck dickköpfig. »Hatte er denn Freunde?«
»Ich weiß es nicht. Aber, was ich weiß, ist, dass er in einer, wie sagt man, Zweierwohngemeinschaft in der Mainzer Neustadt, genauer gesagt in der Josefstraße, wohnte.«
»Das ist bei mir in der Nähe«, sagte Beck erstaunt. »Eigentlich nur ein paar Häuser weiter.«
»Sehen Sie! Dann gehen Sie doch gleich vorbei und informieren sich einfach einmal. Alles andere wird sich sicher schon ergeben.« (...)
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