Mittwoch, 18. Januar 2012

Im Flimmern der Geschwindigkeit

Mathilda hatte schon so viel von der Eisenbahn gehört. Jetzt stand sie vor ihr, groß und dampfend wie ein riesiger Lindwurm aus Stahl und Eisen, dessen schwarzes Maul sie bald verschlingen würde, wie all die anderen Passagiere, die duldsam auf dem Bahnsteig standen. Nur, - wann war es so weit? Bis das Pfeifen aufhörte? Würde man sie an der Hand nehmen und die kleine Treppe vor jedem einzelnen Wagen hinaufführen, - „Wagon“ hieß es, wenn sie sich recht besann? Ihr vielleicht sogar den Mantel abnehmen, wie bei einem festlichen Ball? Sie beobachtet die anderen Passagiere, die sicher schon erfahren waren, was die Eisenbahnreise anbelangte. Sie gab auf alles Acht, nur nicht auf die riesige Dampflok, die ihr Angst bereitete.
»Bitte einsteigen!«, rief ein Mann in Uniform mit einem Schild in der Hand. »Alles einsteigen.«
Und schon setzte sich die Menge in Bewegung, auch Mathilda. Sie ging einfach mit. Sie stieg die Treppe hinauf, folgte ihrem Vordermann und setzt sich direkt neben ihn. Als das Pfeifen draußen lauter wurde, schloss sie die Augen. Es ruckelte. Ihr Oberkörper schnellte vor und zurück. Es war wie bei ihrem Einspänner zu Hause, wenn Karl in hoher Fahrt anhalten musste, weil ein spielendes Kind über den Weg lief. »Brrrrr!« Wie oft hatte sie sich so an der Rückenlehne gestoßen.
Misstrauisch warf sie einen Blick aus dem Fenster. Sie sah Menschen, die winkten. Manche weinten, andere lachten. Dann Häuser. Sie schloss die Augen. Ein zweites Mal. Sie würde sie auch nicht mehr öffnen, bis sie in Darmstadt angekommen war.
Ein Kind schrie ein paar Sitze hinter ihr, was ihr Unbehagen steigerte. Sie konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob es aus Freude oder Angst geschah. Ihr wurde plötzlich schwindlig. Sie musste die Augen öffnen und war überrascht, dass die Landschaft so langsam an ihr vorüberzog. Alles schien stillzustehen.
„Möchten sie sich ans Fenster setzen, gnädige Frau?“, fragte ihr Nachbar freundlich. Er trug einen lustig gezwirbelten Bart in seinem Gesicht.
Sie nickte.
Er stand auf, drehte sich zu ihr, und lüpfte kurz seinen Hut, um sie dann mit einer einfachen Handbewegung zum Aufrutschen aufzufordern.
„Danke“, sagte sie.
Jetzt war alles anders, als sie aus dem Fenster blickte. Hatte der Zug etwa seine Geschwindigkeit erhöht? Die Schnelligkeit war unerhört. Aber, nein. Wie konnte sie denn so einfältig sein? Die Ferne rückte nach wie vor nur sehr langsam hinweg. Es war nur die Nähe, die verschwamm. Die Blumen am Wege waren keine Blumen mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Striche; auch die Bäume nahe der Schienen, die Brücken, die der Zug überquerte, wurden allesamt zu Strichen, zu Geraden, die endlos weiterliefen und für Mathilda die Begradigung widerspiegelten, die die Landschaft, ja die Welt durch die Eisenbahn erfuhr. Die Eisenbahn legte ihrem Auge gleichsam eine Uniform an, die alles zu einem Strich herabminderte: die Kühe, die Schafe, selbst die Menschen, an denen der Zug nahe genug vorbeirauschte. Und wenn sie lange genug aus dem Fenster sah, so verwandelten sich auch die Dinge in der Ferne, die Berge, die Wälder, die Dörfer in endlose Striche, bis sie gegen den Horizont entschwanden, der selbst ein Strich war. 
Das alles konnte auf das Leben und das Denken nicht ohne Einfluss bleiben. Denn im Flimmern der Geschwindigkeit lösten sich nicht nur die Dinge auf, sondern auch der Zusammenhang zwischen den Dingen; auch ihre Bedeutung schob sich ineinander und verlöschte. Man hatte keine Anhaltspunkte mehr außer sich selbst. Ja, mehr noch: Die Eisenbahn tötete den Raum. Es blieb nur noch die Zeit übrig. Sie hatte Angst. Wie sollte das alles enden?  Es war ihr, als kämen die Berge und Wälder auf sie zugerückt, um für immer zu verschwinden. Sie roch schon den Duft der Zypressen, vor ihr brandete das Mittelmeer. Es würde nur kurz sein.

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