Dienstag, 10. Januar 2012

Herausgefallen

Nach fünfminütigem Dösen wachte Anna auf und sah einen nackten Mann mit schütterem Haar und liebevollem Gesichtsausdruck vor ihrem Bett stehen. Wo war sie? Wer war diese Person? Was wollte er? Sie zog die Decke über ihre nackten Brüste und starrte ihn an. Schließlich fragte sie: „Gehöre ich hierher?“
»Na klar«, sagte er lächelnd und setzte sich neben sie.
Sie spürte eine unendliche, kühle Leere. Sie hatte das Gefühl, dass in ihrem Körper eine Tote lebte.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich weiß nicht, wer ich bin?«
»Was soll das heißen, du weißt nicht, wer du bist?«, fragte er sanft und immer noch lächelnd. Er lüpfte die Bettdecke und schlüpfte darunter, sein kalter, nackter Köper an ihrem.
»Ich weiß nicht, wer ich bin«, wiederholte sie.
Jetzt lachte er. »Hör doch auf mit diesem metaphysischen Quatsch, mein Schatz. Und schlaf noch ein bisschen. Es wird heute Abend spät werden. Du weißt doch, wie deine Mutter ist!«
© Paula Andrea Alvarado 
Sie sprang auf und zog den Morgenmantel an. Sperma klebte an ihren Oberschenkeln. Dann rannte sie nach draußen und stieg die Anhöhe hinauf. Das trockene, braune Gras, hart und spitz wie kleine aufrecht stehende Nägel zerbrachen knackend unter ihren Füßen. Während des Aufstiegs versuchte sie ihre Traumvorstellungen von einem Mann mit diesem nackten Mann, der ihr Mann war, in Übereinstimmung zu bringen. Aber es gelang ihr nicht. Warum gelang es ihr nicht? War es ihr jemals gelungen? Sicher. Sonst wäre dieser nackte Mann doch nicht ihr Mann. Oder hatte sie  ihn gegen ihre Traumvorstellungen geheiratet? Was war geschehen? Was war mit ihr geschehen? Warum stellte sie alles in Frage? – Weil die Vergangenheit aus unerfindlichen Gründen nicht mehr der Gegenwart und die Gegenwart nicht mehr der Zukunft glich. Und weil sich damit die Gewohnheit als Gewohnheit entlarvt hatte.
Die Sonnenstrahlen pressten sich wie ein warmer Körper an sie, ließen sie schwitzen und erfüllten sie plötzlich mit dem eigenartigen Verlangen, sich ihres Morgenmantels zu entledigen und nackt weiter zu laufen, was sie auch sofort tat. Oben angekommen streckte sie die Arme über ihren Kopf, ließ das Haar in den Nacken fallen, schloss die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Sie summte eine Art melodieloses Lied, einen Sprechgesang und bemerkte, wie sich die Erde bewegte, wie sich um sie herum alle Elemente in Bewegung setzten. Sie nahm die Hitze in sich auf und spürte all die Bewegungen ihres Körpers als persönliche Ereignisse, die sie sozusagen von außen heimsuchten, plötzliche Lichtstrahlen, die wie Blitze durch sie hindurchfuhren. Sie war nicht verrückt. Sie hatte sich verrückt. Plötzlich wusste sie, wer sie war und wusste auch, warum ihr Mann nicht der Mann war, den sie sich erträumt hatte. Und es war ihr jetzt auch völlig gleichgültig, ob ihr Mann ihren Traumvorstellungen entsprach. Wichtig war nur, dass sie sich selbst wieder spürte.

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