Freitag, 30. September 2011

Gedächtnis


Oder war alles ganz anders gewesen? - Das Gedächtnis schlug einem manchmal ein Schnippchen. Es war kein statischer Aktenordner oder ein verstaubendes Archiv. Wenn man sich rückwärts vom Ende bis zum Anfang bewegte, sah es aus, als ob die gesamte Folge der Erlebnisse durch ein ununterbrochenes Band zusammengehalten werden würde, auf dem das Wort »Sinn« stand. Es sah aber nur so aus, - damit man besser schlafen konnte. Außerdem war dieses Band, je nachdem von welchem Ende man die Erlebnisse betrachtete, immer anders beschaffen.

Donnerstag, 29. September 2011

Augen-Blick

Sie fuhr plötzlich hoch und stieß mich von sich. »Mach das Licht an«, sagte sie, »und mach bitte die Augen auf. - Schau mich dabei an. Sonst entziehst du dich mir. Verstehst du? Du bist für mich nicht da, wenn nur ich dich ansehe, sondern erst, wenn auch du mich ansiehst. Willst du das?«
Wie ertappt schüttelte ich den Kopf. 
»Also fick mich und schau mich dabei verdammt noch mal an.«




Mittwoch, 28. September 2011

Am Strang

„Sehen Sie! Beim Erhängen kann Ihnen das nicht passieren. Das ist ein sauberer Tod!“ Der Metzger blickte in Becks bleiches Gesicht. „Ok“, räumte er ein, „die Zunge hängt manchmal ein bisschen komisch rum. Aber letztendlich ist es doch für beide eine feine Sache! - Oder?“
„Ich verstehe Sie nicht?“, fragte Beck ein wenig verstört.
„Na, ja! Beim Erhängen, hab‘ ich mir sagen lassen, rast das Leben an einem vorbei und man durchlebt die schönsten Erlebnisse alle noch einmal. Die wunderlichsten Bilder und Gestalten tanzen und flirren einem dann vor den Augen.“ Daniel schwieg und starrte ins Leere. „Aber für mich“, fuhr er fort und stieß den Atem aus, „ist das nichts! Ich würd‘ mich von einem der beiden Hochhäuser am Bonifaziusplatz stürzen.“ Er zeigte nach draußen. „Das ist aber auch ekelhaft. Man müsste mich ja dann wie Matsch vom Boden abkratzen!“ Daniel schien nachzudenken. „Nein, das ist auch nichts! – Die Golden Gate Bridge.“ Sein trüber Blick begann zu leuchten. „Das wär’s! Der anmutige Bau, der die Bucht von San Francisco, eine der schönsten Gegenden der Welt überspannt... Der Sprung ist todsicher. – Entweder die Golden Gate Bridge, oder gar nichts!“ Er griff wieder nach dem Beil und betrachtetet es. „Sie hat Klasse, etwas Graziöses und Wunderschönes.“ Er holte weit aus. „Der Sprung von der Brücke, ein Sturz von achtzig Metern in die Tiefe, ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit tödlich. Es heißt, man stirbt mitten in der Luft, bevor man auf dem Wasser aufschlägt.“ Das Beil sauste nieder, klatschte auf das Fleisch und zerteilte es in zwei Hälfte. „Der Aufprall auf dem Wasser ist so hart, dass die Blutgefäße reißen, das Nervensystem gestört wird und die Wirbelsäule bricht.“ Er umfasste Beck mit seinen Blicken. „Durch den Aufschlag aufs Wasser platzen die inneren Organe regelrecht auseinander.“ Er lächelte, während er mit dem Beil erneut ausholte und zuschlug. Das Fleisch schmatzte. „Und das Wasser“, ergänzte er, „schwemmt es weg. – Wenn Sie dann aber immer noch leben, sind Sie garantiert nur noch Gemüse und Ihre Wahrnehmung ist die eines Kohlkopfs.“
Wie ein Stück Holz stand Beck vor der Fleischtheke und wusste nicht mehr, was er fragen, was er sagen sollte. Alle Fragerei hatte doch kein Zweck. Stefan war ein netter Kerl gewesen. Das war alles, was er erfahren hatte. Spärlich war es. Ja! Aber mehr würde er von diesem eigenartigen, groben Klotz heute doch nicht mehr erfahren. So sanft und bewusst wie dieser mit dem Fleisch umging, so unsanft und scheinbar unbewusst gebrauchte er seine Worte. Er wand sich. Es war kein geschicktes Ausweichmanöver, das dieser Mensch betrieb. Durchsichtig und geradezu plump war es. So plump und durchsichtig, dass es durchaus eine Bedeutung haben konnte. Eine Bedeutung, die er, Beck, nicht verstand. Zumindest noch nicht. 


aus: © Neumann, Hubert: Lusthängen. Remscheid 2007.
Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 

Freitag, 23. September 2011

Lippenstift


.... ›Einen Chardonnay, bitte‹, gab sie zur Antwort und platzierte sich so, dass mein Blick fast jedes Mal auf ihr Gesicht fallen musste, wenn ich ihn von meiner Tresenarbeit erhob. Dieses wunderbare Gesicht. Die unterhaltsamste Landschaft auf Erden. Jedes Mal, wenn ich aufblickte, war es anders. Wie die See am Kiel eines Schiffes beständig ihre Farbe verändert von tanggrün zu glasblau, von feuerrot zu silbergrau, so veränderte sich sein Ausdruck: mal war es listig und lasterhaft, mal keusch und unschuldig, dann wieder zeigte es die stumpfen Züge einer Greisin, gleich darauf die eines sorglos lächelnden Mädchens oder einer still vor sich hin lachenden Irren, um schließlich in der Miene einer verzückten schönen Heiligen zu erstarren, vor deren entrücktem Antlitz die Pforten des Paradieses aufspringen.«
Er verstummte und stellte das Weinglas mit dem Lippenstift, das er die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte, vorsichtig und nur kurz auf den Boden, um an seinem Rotwein zu nippen.
»Ja, ja«, fuhr er besonnen fort und strich sich über den Kopf. »Ein Mann macht sich nach seinem Standpunkt in der Welt, weil er das ganze Gesicht einer Frau nicht fassen kann, einen Auszug daraus, der dann das Merkwürdigste enthalten kann. Und eine Frau? - Eine Frau gerät - ist ein Mann in der Nähe - stets in Zugzwang und muss diesen von ihrer Unschuld oder was auch immer überzeugen. Weshalb sie das, was an ihr gesucht wird – an diesem Abend also die entrückte, reine Schönheit –, sichtbar macht, um nicht einer Missdeutung anheimzufallen.« Der alte Kellern wirkte seltsam erregt und seine Erregung steigerte sich von Wort zu Wort. »Ich brachte ihr den Wein. Mit leicht geöffneten Lippen nippte sie daran. Es war der Moment, wo sich die Nähe zu ihr in fast körperlichem Schmerz ausdrückte. Die dunkelrote Farbe ihres Konturenstifts, mit dem sie ihre ganze Tatkraft auf dem Mund eingezäunt hatte, begann sich abzufärben und zeichnete sich jetzt, zwar noch fein und fast unsichtbar, auf dem Glas ab.«
Unruhig bewegte er sich in seinem Sessel hin und her, bis er schließlich aufstand, um uns nachzuschenken.
»Und dann?« fragte ich neugierig. Er hatte alles ganz so erzählt, als ob er die Welt gerade im Moment des Erlebens erfasse, als ob der Wolf am Tag ein anderer sei als derselbe bei Nacht, oder die Morgensonne eine andere als die Abendsonne. Die Eigenschaften, die Raum und Zeit den Dingen verleihen, schien er nicht berücksichtigen zu wollen. 

Donnerstag, 22. September 2011

I will survive


Beck lehnte an der hinteren Theke im KUZ, einer alten Industriewerkstatt am Rhein, die schon vor Jahren zu einer Diskothek und einem Kulturzentrum umfunktioniert worden war. Vor ihm stand ein Bier, das er nicht mehr trinken wollte. Das Mädchen hinter dem Tresen hatte den Schaum mit einer obszönen Handbewegung vom Glas gewischt und es vor ihn hingestellt. Es war sein viertes oder fünftes. So genau wusste er es nicht mehr. Er hatte gleich bezahlen müssen, und darum war es nicht wichtig, dass man seine Biere zählte. Der Laden war voll, fast überfüllt. Die Musik dröhnte in seinem Kopf. Und Vorübergehenden, sowohl die, die ihn mit lärmender, klammernder Eindringlichkeit anrempelten, als auch die, die sich vor ihn quetschten, um sich ein Getränk zu besorgen, gingen ihm auf die Nerven. Er fühlte sich zu alt für solche Veranstaltungen. Auch wenn sie für über Dreißigjährige ausgerichtet und deshalb »Ü 30-Partys« genannt wurden: neben ein paar Studenten lauter Frühergraute, die nicht alt werden wollten und noch in zwanzig oder dreißig Jahren dort stehen würden, gebeugt und nervös zitternd, mit ausgeschalteten Hörgeräten, wegen des lästigen Pfeiftons bei der Rückkopplung, um sich dann, wenn endlich die ersten Takte von Gloria Gaynors »I will survive« zu vernehmen waren, mit dem Krückstock in der Hand oder dem Rollstuhl unter dem Hintern den Song nachjauchzend auf die Tanzfläche zu schleppen. Und wehe, es würde jemand im Wege stehen …

Mittwoch, 21. September 2011

Ein Schatz


»Ein Schatz ist ein Gegenstand, der solange im Verborgenen gelegen hat, dass er keinem rechtmäßigen Eigentümer mehr zugesprochen werden kann«, sagte sie.  Sie war weit weg, mit ihren Gedanken und auch ihren Blicken, die durch ihn hindurchgingen und ihn zerschnitten wie ein Laserskalpell. Er wusste eigentlich nie, wo sie war. Er wusste schon gar nicht, was sie des Nachts in ihren Träumen tat. Sie zuckte und schrie, bis er sie antippte, oder manchmal auch schüttelte, und wenn sie aufwachte, waren ihre Augen wie kochend heiße Steine.

Dienstag, 20. September 2011

Zum Ratzverschreck


Berta kannte sich mit Ratten und überhaupt mit allem Ungeziefer aus, das aus dem Unrat entstanden war. Das stellte sie immer wieder unter Beweis. Ratten waren giftig. Sie bewirkten Eitergeschwüre und Furunkel bei denjenigen, die sie gewollt oder ungewollt berührten, besonders am Schwanz oder wenn sie tot waren. Berta hatte noch niemals Geschwüre bekommen, wenn sie es mit einer toten Ratte zu tun gehabt hatte. Mit dem Schürhaken bewaffnet trat sie an den Kadaver heran, um ihn mit einem Stock oder Besen auf eine Schaufel zu befördern und anschließend auf dem Komposthaufen zu verbrennen. Zur Abschreckung und zum Beispiel einer jeden. Zumindest sagte sie das oder Anna glaubte es aus der sehr schnell ausgesprochenen und heruntergeleierten Wendung »Zumratzverschreck« - nur einer ihrer vielen eigentümlichen Ausdrücke -  herauszuhören.
Einmal hatte Anna sogar erleben dürfen, wie diese kleine kräftige Frau mit den abfallenden Schultern einer gefangene Ratte eine Glocke um den Hals gehängt und mit feuerrotem Kopf keuchend über die Felder gejagt hatte. Danach war auf dem Kronenhof monatelang kein einziger Nager mehr zu sehen gewesen.
Ja, Berta kannte sich mit solcherlei Ungeziefer wirklich aus! Mehrmals am Tage belauerte sie das Treiben im Schweinestall, besonders um die alten Holztröge herum, denn, wenn auch nur eine Ratte ihren giftigen Schwanz dort hineinhängen ließ, gedieh das gesamte Borstenvieh nicht. Aber wehe, sie erwischte eine dabei, was schon einige Male vorgekommen war, dann stürzte sie sich aus voller Kehle eher krächzend als brüllend mit der Mistgabel darauf. Doch damit nicht genug: Wenn sie unter den Schweinen oder vor dem Stall auch nur den Schatten einer Ratte wahrnahm oder wahrzunehmen glaubte, schrieb sei ein kleines Gebet oder ein paar Buchstaben auf einen Papierfetzen oder ein altes linnenes Tuch und schob es an einem Sonntag unter das Altartuch, damit Pfarrer Solinander die Messe darauf las. Dann war wirklich nichts mehr zu befürchten. Berta wusste aber auch, dass nicht nur die Ratten selbst, sondern auch die von ihnen berührten Gegenstände Verderben über Mensch und Vieh bringen konnten, selbst wenn sie nur beschnuppert worden waren. Daher bereitete sie die Mahlzeiten niemals aus Viktualien, woran eine Ratte genagt haben könnte. Denn hätte man davon gegessen, wären einem die Zähne ausgefallen. Doch das war Gott sei Dank, und trotz der gegenwärtigen Rattenplage, bisher noch keinem in ihrem Haushalt widerfahren. - Hans, der Knecht hatte zwar eine große Zahnlücke, ihm war der rechte Eckzahn vor nicht allzu langer Zeit ausgefallen, doch das hatte ganz sicher nicht an Bertas unterlassener Sorgfalt  gelegen. Denn Hans kaute nur so als Zeitvertreib gerne auf hartem Leder.

Mittwoch, 14. September 2011

Trüffelschwein


Wie jeden Abend steckte sie sich eine herzförmige Praline in den Mund und loggte sich in eine dieser Singlebörsen ein, um die Profile der Männer zu durchstöbern, die sich dort von ihrer besten Seite darboten. Und wieder schrieb sie einen nach dem anderen an, in der Hoffnung, dass endlich der Richtige antwortete.
Wie sie fand, hatte ihre augenblickliche Lage alles in allem etwas mit der eines hungrigen Trüffelschweins gemein das den Boden nach essbaren Wurzeln, Würmern und Engerlingen durchwühlt und dabei mehr oder weniger zufällig auf einen unterirdischen Trüffelgarten stößt: Da riecht nun die schöne, geschlechtsreife Sau, den sexuell aufregendsten Eber ihres Lebens. Das Hirn ruft Erinnerungen an wilde Deckakte wach. Sie wird halb verrückt vor Lust. Aber aus unerfindlichen Gründen scheint sich der Eber unter der Erdoberfläche zu befinden. Das macht sie rasend, und sie gräbt wie besessen und befördert schließlich nichts anderes als einen seltsamen, klumpigen Pilz zutage. Ihre Enttäuschung ist groß. Doch damit nicht genug. Noch bevor sie wenigstens den Pilzklumpen hinunterschlingen kann, schlägt der Trüffelbauer zu und verkantet einen Maiskolben in ihrem Maul. Und weil sie immer noch hungrig ist, begnügt es sich damit. Enttäuscht, aber immer noch in der Hoffnung, beim nächsten Mal doch noch zum Zuge zu kommen.

Dienstag, 13. September 2011

Die kleine Sirene


»Tu das nicht! Du wirst es bereuen«, schrie der Krüppel ihm nach, als er mit dem toten missgestalteten Säugling die steile Böschung zum Bach hinunterstieg.  

Die Stimme kam unvermutet, so dass er unwillkürlich seinen Kopf einzog, das Gleichgewicht verlor und auf einem Stein ausrutschte. Als er fiel, machte es ein dumpfes, schmatzendes Geräusch.  Danach hatte er den unangenehmen Geschmack nasser Erde im Mund. Er machte keine Anstalten, sich aufzurichten, und blieb liegen, im hohen Gras. Er grinste. Die dort oben konnten ihn jetzt nicht mehr sehen, dafür aber die Missgeburt, die er immer noch in der weit von sich gestreckten Hand hielt, so dass es den anderen vorkommen musste, als schwebe sie lebendig über den Halmen in der Luft. Er schwang sie hin und her, bewegte ihre Hand bald auf die eine, bald auf die andere Weise und machte dunkle Geräusche, die aus der Tiefe seiner Gedärme kamen. Dann vergnügte er sich damit, ihren Mund zu öffnen und zu schließen, als wolle sie etwas sagen. Der Gedanken, dass denen dort oben das Blut in den Adern gefrieren musste, amüsierte ihn gewaltig. Schließlich rollte er sich nach unten zum Bach, legte sie ins Wasser, badete sie, und wartete darauf, dass sie sich tatsächlich belebte, eine winzige Nixe, die ihm gleich davonschwimmen würde.

Montag, 12. September 2011

Misstrauen


Der alte Mann schwitzte in Strömen. »Im Dunkel«, sagte er, „dort, wo man es nicht sehen kann, und hinter den Sträuchern lauert es.« Er hielt das Taschentuch in der Hand und trocknete sich die Stirn, den Hals und die aufgeschwemmten Wangen. »Man fragt sich, was es ist, was da lauert.« Er schaute ins Leere, den Mund voll Speichel, als versuche er, sich daran zu erinnern, wer er war und wo er sich befand. »Es ist etwas ganz Unbestimmtes«, sagte er. »Es ist das Lauern selber. Die Zwischenräume zwischen dem Sichtbaren und das Dahinter, all dieses Ungreifbare ist mir nicht mehr geheuer.« Plötzlich erhob er sich von seinem Sessel, furchtbar bleich, ging zum Fenster und blickte hinaus.
Sie sah, dass seine kleinen Augen unruhig flatterten.
»Der Hintergrund selbst, von dem sich die greifbaren Dinge abheben«, sagte er, während er mit den Fingern auf die Fensterbank trommelte, »hat seine Unbefangenheit verloren. Nicht der Baum oder der Strauch, den ich sehe, das Rauschen der Wipfel oder das Schreien des Kauzes, das ich höre, ist es, was mich beben macht, sondern alles Hintergründige, der ganze Unraum, aus dem der Baum und Strauch, das Rauschen und Krächzen sich herausheben, eben das Dunkel und der Hintergrund selbst.«
Während der ganzen Zeit, in der er sprach, unterbrach ihn Mathilde nicht ein einziges Mal. Sie hörte ihm zu. Weder nickte sie, noch schüttelte sie den Kopf, ihre Augen, die sie starr auf ihn gerichtet hielt, irrten zuweilen ab. Sie fragte sich, ob die Krisen seiner geistigen Umnachtung mit solchen Reden begannen?
Er machte eine Pause und drehte sich um, inspizierte seine Zimmer. Sein Hemd war halb herausgerutscht und sein Haar zerzaust. »Genauso ist es mit dem Misstrauen«, fuhr er nach einer Weile fort, heftete den Blick auf sie und streckte das Kinn so weit zu ihr hin, dass sie seine nächsten Worte auf ihrem Gesicht spüren konnte. »Nicht das, was die Menschen tun oder sagen, macht mich misstrauisch, sondern das, was sie nicht sagen und was sie nur heimlich hinter meinem Rücken tun, was sie beabsichtigen zu tun, was sie im Schilde führen, was sie untereinander besprechen, während ich nicht dabei bin.« Er ließ sein Kinn auf die Brust sinken und setzte sich wieder. »Ja, das, was sie nicht sagen«, wiederholte er schläfrig und schloss die Augen, »das macht mich misstrauisch.« 

Donnerstag, 8. September 2011

Empör dich!


Endlich saß sie mit ihm in diesem Selbstbedienungsrestaurant, in das sie immer noch so gerne ging, zwei Mal die Woche sogar, wenn es ihre Zeit zuließ. Es war nicht einfach gewesen, sie hatte lange auf ihn einreden müssen, bis er schließlich eingewilligt hatte, widerstrebend zwar, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Er betrachtete alles ganz genau: die Tische und Stühle, die trotz des Furniers immer noch nach Plastik aussahen, die lindgrünen Wände, die Theke, aber auch die Menschen, die dahinter arbeiteten. Besonders interessierten ihn die albernen Papierhauben, die jeder auf dem Kopf trug.
„Und die arbeiten wirklich alle für einen Hungerlohn“, fragte er ungläubig.
Sie nickte.
„Und es ist überall gleich? Auf der ganzen Welt?“
Sie nickte wieder.
Der alte Mann stierte auf sein Tablett, steckte eine Pommes in den Mund und sagte halb ehrfurchtsvoll, halb ironisch schließlich: „Man spürt das Älterwerden nicht, wenn sich um einen herum scheinbar alles ändert. Diese schrecklichen Innovationen, wie man heute dazu sagt. Was ist das nur für eine Welt, in der das Geld regiert und die Menschen nicht so viel Ehrbarkeit haben als eine Mücke auf dem Schwanz wegführen mag!“ Mit einem abrupten, heftigen Seufzer schlug er die Augen auf und sah sie an. Sie empfand den Blick wie einen heftigen Schlag, der sie auf ihrem Stuhl unwillkürlich zurückweichen ließ, als mache er sie für all das hier verantwortlich. „Was ist das für ein kümmerliches Leben, das mit Büroklammern zusammengeheftet wird?“ Er bemühte sich, freundlich zu sein, runzelte aber sorgenvoll die Stirn. „Sie glauben doch auch an diesen Dieter Bohlen und diese unseligen Castingshows? Oder nicht?“, fragte er endlich mit jenem unfeinen hämischen Lächeln, in dem zuweilen das Vergnügen des Menschen am Missgeschick des Nächsten so ungeniert zum Ausdruck kommt. Sein Blick durchbohrte sie. Niemals hatte sie bei ihm einen solchen Ausdruck von Härte bemerkt; seine Nasenflügel bebten. Sie wusste nicht gleich, was er meinte. Ihre vielen Dates, die über das Internet zustande kamen? Ihre Auswahlkriterien?
Als sie im wahrsten Sinne des Wortes in sich hineinhörte, war da nichts außer einem Kreischen, einem fortwährenden Kreischen, das kein Ende zu finden schien. Wann es begonnen hatte, wusste sie nicht. Vielleicht, als sie von der Toilette gekommen war, oder als sie mit ihm vor der Theke gestanden hatte, um dieses widerliche Stück Fleisch zwischen den beiden feuchten Getreidelappen zu bestellen, das er auch ohne Gebiss hinunter bekommen hätte. Sie hätte ihm nicht sagen können, ob das Gekreische eher dem grellen Geräusch einer Kreissäge ähnelte, die Baumstämme zersägt, oder einer S-Bahn auf ausgefahrenen Schiene, die sich zu schnell in die Kurve legt, hätte er sie danach gefragt. Sie hätte ihr lediglich sagen können, dass es in ihr drin war, in ihrem Kopf, und dass es weniger ein Geräusch als so etwas wie eine Mauer war, die ihr Denken begrenzte. Jedenfalls kam es ihr so vor. Sie dachte an eine Mauer aus Kaugummi, nicht aus Stein, aus unzähligen winzigen, noch warmen Kaugummiquadern von zwar biegsam-weicher, aber in sich fester, kaum dehnbarer Konsistenz, die man mit einer feinen Nadel nicht mehr hätte durchstechen können, wenn es die Möglichkeit dazu geben hätte. Hätte man die Möglichkeit aber gehabt, das wusste sie, dann hätte sie eine offene Weite gespürt, die ihr im Laufe der Jahre verloren gegangen war; es war das Gefühl in einer Glückbärchenwelt zu leben, in der die Menschen stets gut zueinander sind.
„Mathilda!“, sagte er, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. „Mathilda!“ Er durfte sie jetzt Mathilda nennen.
Sie fuhr sich mit dem kleinen Finger in den Augenwinkel, als müsste sie einen Fremdkörper entfernen. „Ja“, entgegnete sie ein wenig gereizt. „Was soll diese Frage?“ Die Laute taumelten aus ihrem Mund. „Meine Zeit ist mir zu schade, um mit derartigen Fragen vertan zu werden.“ Sie stand auf, sie wusste nicht genau, was sie tat, und fegte mit einer einfachen flachen Handbewegung ihr Tablett vom Tisch. Dann kamen die Schreie, lange aufgestaute Schreie, wie ein Gewitter, und das Kreischen hörte auf. „Endlich“, sagte sie nach einer Weile, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Endlich!“ 

Mittwoch, 7. September 2011

Wenn's oben nix is

»Bleib doch noch«, sagte die Alte leise, ohne von seiner Hose auf ihrem Schoß aufzusehen, als er sich noch einmal nach ihr umwandte. »Vielleicht ist’s das letzte Mal«, sagte sie. »Der Herrgott dort droben wird mich bald holen.« Dann schwieg sie wieder.
»Ach was!«, sagte er und deutete auf den Berg Wäsche, den er ihr vorbeigebracht hatte. »Du hast noch so viel zu tun, da wird er dich nicht holen.«
Er blieb im Türrahmen stehen und betrachtete die Röte, die sich auf ihren eingefallenen Wangen zeigte, den alten Körper, der sich erwartungsfroh straffte, die dünnen Finger, die die Nadel umfassten, dann ging er zurück, setzte sich neben sie auf den wurmstichigen Stuhl und schaute ihr ebenso schweigend beim Nähen zu.
Sie lächelte zufrieden in sich hinein wie ein Kind auf einem Holzpferd kurz bevor sich das Karussell in Gang setzt.
Hoch und runter ging die Nadel durch die vier Löcher des Knopfes, und die geschickten sicheren Bewegungen ihrer linken Hand, mit der sie ihn annähte, hatte alle Eleganz, die ihre Sprache vermissen ließ. Nach einer Weile legte sie das Nähzeug zur Seite und richtete sich auf. »Wenn's oben nix is«, sagte sie unvermittelt und schüttelte den Kopf, »war's nix!«

Dienstag, 6. September 2011

Xenophobie

Ein Fremder, ein wirklich Fremder war jemand, der von weit her kam, vom Rande der Welt. Für Anna, wie auch für fast alle anderen Dörfler, außer dem Wundarzt, der, wie es hieß, in seinem Leben weit herumgekommen sei, und einigen wenigen anderen, wie etwa den Tagelöhnern, die auf der Suche nach Arbeit das ganze Land durchzogen, war Weißenberg mit seinen Wiesen und Gärten, seinen Feldern und Wäldern die Mitte der Welt, um die sich die Sonne, ja das ganze Firmament drehte. Weißenberg war von einer Art Scheidewand vom näheren Umland getrennt.
Dahinter, noch diesseits des Horizonts, lag das Land, wie es die Dorfbewohner nannten, das noch Bekannte, das alle Dörfer im Umkreis von etwa einem halben Tagesmarsch einschloss. Wenn man morgens losmarschierte, konnte man abends wieder zuhause sein. Die Menschen, die in diesen Dörfern lebten, waren einem zwar fremd, wenn man mit ihnen nicht durch Blutbande verbunden war, doch sie hatten nichts Beängstigendes an sich. Sie waren weder gut noch böse, weder Feind noch Freund. Sie waren wie man selbst und lebten von derselben Erde. 
Jenseits des Horizonts aber begann ein unüberschaubares Gebiet, wo übernatürliche Kräfte herrschten. Wenn man es durchwandern musste, tat man es oft unruhigen Herzens. Man wusste nicht, ob man in den Dörfern dort willkommen war, wenn einen die Nacht überraschte. Hier war das Elend, wie man die Fremde auch nannte, das völlig Unbekannte, wo man Räubern, wilden Tieren und anderen Fährnissen der Zeit schutzlos ausgeliefert war, und wo einem kein Verwandter zu Hilfe eilen konnte. Von hier kamen die wirklich Fremden, die Ausländer; und so wie man sich vor dem Land, aus dem sie kamen, fürchtet, so fürchtete man sich auch vor ihnen. Denn von ihnen ging eine unbestimmte Gefahr aus. Obgleich sie in etwa die gleiche Sprache sprachen, waren sie anders als man selbst. Sie lebten von einer anderen Erde. 
Wie lange hatte Anna keinen wirklich Fremden mehr gesehen? Weißenberg lag fernab der großen und wichtigen Straßen. Hierher verirrte sich nur selten jemand. Ab und zu kam einmal ein Gaukler, ein Spielmann oder ein Landsknecht mit federgeschmücktem Barett vorbei, ganz selten auch einmal ein Pilger auf dem Weg nach Rom oder Santiago de Compostela, oder wie letzte Woche ein Bauer aus dem Wonnegau, aber wenn, dann blieb er nicht lange.

Dort, wo du bist...


Er zog sie hinter sich her, nachdem er mit kaum hörbarer Stimme gesagt hatte, dass er sie begehre. Naja, er hatte es anders ausgedrückt. Dass er, geil auf sie sei, hatte er gesagt. Aber das war doch das Gleiche? Seine Finger gruben sich in ihre Schulter, während er den schweren violetten Vorhang zur Seite schob, der sie an ein Theater erinnerte. Was sie wohl auf der Bühne erwartete?
Draußen war es kalt. Sie fror in ihrer dünnen Bluse. Daher machte es ihr nichts aus, als er sie mit seinem ganzen Gewicht an die Hauswand drückte. Es tat etwas weh, aber seine warmen Hände auf ihren Brüsten ließen den Schmerz schnell vergessen.
»Zieh deinen Schlüpfer aus«, sagte er, während seine sanften Fingerkuppen hektisch ihre Schenkel nach oben strichen. »Mach schon!«


Sie versteifte sich in seinen Armen, schloss die Augen, um diesen Mann, diesen Atem und diese Worte zu vergessen. Sie zwang sich, nicht zu fliehen. Dass es ihr gelang, sich zu bezwingen, in seiner Umklammerung zu verharren, ohne sich ihm rückhaltlos hinzugeben, erfüllte sie mit einem kleinen Triumph. Sie hoffte, ihn so quälen zu können, wie er sie quälte. Seitdem er sie mit den Worten »Ich liebe dich nicht, mein Schatz«, abserviert hatte, nachdem sie mit ihm im Bett gewesen war, hatte er immer wieder neue Scheußlichkeiten ersonnen, um ihre Leidenschaft von neuem zu entfachen, hatte immer wieder sein Verhalten zu ihr geändert: Wie oft hatte er sie ignorierte? Ihr  dann aber plötzlich wieder alle Beachtung der Welt geschenkt, hatte getan, als fände er Gefallen an ihr. Wie oft hatte er sie geschnitten, nachts im Club und auf der Straße? Ihr dann aber wieder, einfach so im Vorbeigehen, mit seiner lächelnden Miene Dinge mitgeteilt, die sie in eine fast irrsinnige Erregung versetzten. Und jetzt wollte er sie einfach so nehmen wie einen Atemzug!
»Was ist denn?«, fragte er, während er seine Arme sinken ließ.
Sie antwortete nicht und löste sich langsam von ihm, sehr langsam, damit er an der allzu raschen Bewegung nicht merkte, wie sehr ihre Verweigerung gespielt gewesen war. Dann sagte sie, nur um ihn noch weiter zu quälen, die beiden Sätze, die sie wenig später schon bereuen würde: »Wenn ich dich sehe, werde ich die Straßenseite wechseln. Dort, wo Du bist, will ich nicht sein.«

Sonntag, 4. September 2011

Gerechte Welt


Er streifte sie mit einem höhnischen Blick. »Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass wir in einer gerechten Welt leben, in der uns nichts Schreckliches passieren kann, das wir nicht verdient haben? Das glaubst du doch nicht wirklich? – Oder?« 
Sie stand immer noch vor ihm, sonnenverbrannt, mit feinem Flaum, an Armen und Beinen, wie eine goldene Biene. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie bemühte sich, einen Halm mit den bloßen Zehen zu fassen. 
»Nein«, entgegnete sie nach einer Weile, »genauso wenig wie du.« Sie lachte beinahe zärtlich, stockte und fuhr dann in wiederum ernstem Ton fort: »Aber das ist keine Frage des Glaubens.« Ihr Mundwinkel zuckte, und für einen Moment kam es ihm vor, als wollte sie ihn küssen. »Es ist Notwehr. Ich und du, wir alle werden wider besseren Wissens von dem Bedürfnis überwältigt, für unsere Erlebnisse und Erfahrungen sinnvolle Erklärungen zu finden, unser grundloses Pech inbegriffen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und neigte den Kopf leicht zur Seite, als ob sie ihren Blick schärfen wollte. »Aber sieh es doch einmal von der anderen Seiten: Sagst du nicht ständig, dass du nur wegen deiner Leistungen Chefarzt geworden bist? Das sagst du doch? – Oder? - Aber woher willst Du das wissen? Warum ist Arne kein Chefarzt geworden? Sein Examen war viel besser als deins. Er arbeitet auch mehr!« Sie verzog ihre Mund zu einem kleinen spöttischen Lächeln. »Du siehst, es ist genau das Gleiche in Grün. Jetzt kann ich dich fragen: Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass wir in einer gerechten Welt leben, in der das passiert, was wir verdient haben?«

Samstag, 3. September 2011

Potpurri


Ihre Moderation war für ihn unerträglich. Eine Akkumulation von Unwahrheiten und Belanglosigkeiten, jedenfalls für ihn: dass sie niemals so herzlich empfangen worden sei, dass dieses Publikum das beste Publikum auf der Welt sei und einen Humor hätte, der seinesgleichen suche. Die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Es fehlte nur noch, dass sie »I love you« rief. Er überlegte sich, ob sie ihn auch so schamlos anlog? Es war ja ihr Geschäft! Sie machte es jeden Tag, wenn nicht auf der Festwiese, dann im Sender. Der Rundfunk hinterließ seine Spuren.
Als sie plötzlich von einem bunten Melodienstrauß sprach, der gleich alle begeistern würde, mit einer Stimme, die ihn an ihre erste Nacht erinnerte, konnte er nicht mehr an sich halten. »Hör mir doch auf«, schreie er in Richtung Bühne. »Hast du nichts anderes auf Lager. Was ist denn ein Potpourri anderes als ein Coitus interruptus nach dem anderen? - Kaum ist man drin, schon muss man wieder raus.«

Freitag, 2. September 2011