Dienstag, 6. September 2011

Xenophobie

Ein Fremder, ein wirklich Fremder war jemand, der von weit her kam, vom Rande der Welt. Für Anna, wie auch für fast alle anderen Dörfler, außer dem Wundarzt, der, wie es hieß, in seinem Leben weit herumgekommen sei, und einigen wenigen anderen, wie etwa den Tagelöhnern, die auf der Suche nach Arbeit das ganze Land durchzogen, war Weißenberg mit seinen Wiesen und Gärten, seinen Feldern und Wäldern die Mitte der Welt, um die sich die Sonne, ja das ganze Firmament drehte. Weißenberg war von einer Art Scheidewand vom näheren Umland getrennt.
Dahinter, noch diesseits des Horizonts, lag das Land, wie es die Dorfbewohner nannten, das noch Bekannte, das alle Dörfer im Umkreis von etwa einem halben Tagesmarsch einschloss. Wenn man morgens losmarschierte, konnte man abends wieder zuhause sein. Die Menschen, die in diesen Dörfern lebten, waren einem zwar fremd, wenn man mit ihnen nicht durch Blutbande verbunden war, doch sie hatten nichts Beängstigendes an sich. Sie waren weder gut noch böse, weder Feind noch Freund. Sie waren wie man selbst und lebten von derselben Erde. 
Jenseits des Horizonts aber begann ein unüberschaubares Gebiet, wo übernatürliche Kräfte herrschten. Wenn man es durchwandern musste, tat man es oft unruhigen Herzens. Man wusste nicht, ob man in den Dörfern dort willkommen war, wenn einen die Nacht überraschte. Hier war das Elend, wie man die Fremde auch nannte, das völlig Unbekannte, wo man Räubern, wilden Tieren und anderen Fährnissen der Zeit schutzlos ausgeliefert war, und wo einem kein Verwandter zu Hilfe eilen konnte. Von hier kamen die wirklich Fremden, die Ausländer; und so wie man sich vor dem Land, aus dem sie kamen, fürchtet, so fürchtete man sich auch vor ihnen. Denn von ihnen ging eine unbestimmte Gefahr aus. Obgleich sie in etwa die gleiche Sprache sprachen, waren sie anders als man selbst. Sie lebten von einer anderen Erde. 
Wie lange hatte Anna keinen wirklich Fremden mehr gesehen? Weißenberg lag fernab der großen und wichtigen Straßen. Hierher verirrte sich nur selten jemand. Ab und zu kam einmal ein Gaukler, ein Spielmann oder ein Landsknecht mit federgeschmücktem Barett vorbei, ganz selten auch einmal ein Pilger auf dem Weg nach Rom oder Santiago de Compostela, oder wie letzte Woche ein Bauer aus dem Wonnegau, aber wenn, dann blieb er nicht lange.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen