Mittwoch, 19. Oktober 2011

Kitschmensch


»Ich will dich nicht täuschen«, wiederholte er freundlich, um sie nicht zu verletzen und strich ihr durch das Haar. »Ich fühle für dich nicht das Gleiche wie du für mich. Es ist besser, dass ich es dir sagen, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort, ja hörte ihm noch nicht einmal zu, sie dachte an die Bankenpleite, von der er gerade noch gesprochen hatte, an den Dominoeffekt und die kommende Wirtschaftskrise. Im Grunde genommen war das keine üble Sache; es bedeutete, endlich die allem Leben wesentliche Unsicherheit zu spüren, die zugleich lust- und schmerzvolle Unruhe, die jede Minute in sich barg. Es hieß, ganz im Augenblick, statt in der Zukunft zu leben. Gewöhnlich schrak sie vor einem solchen Gedanken zurück, aber jetzt war sie es satt, sich in Sicherheit zu wiegen, sich für die tiefe Spannung ihres Schicksals unempfindlich zu machen, indem sie sich der Gewohnheit, der Illusion von Geborgenheit und anderen Betäubungsmitteln hingab, aber sie wollte endlich leben. Sie wollte sich keine Illusionen mehr machen, die jedes Wagnis, alles Neue unterbanden. Sie wollte keiner Selbsttäuschung mehr erliegen und jede Form von Begeisterung als Verblendung abtun. Je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass ein Optimist zwar häufig Niederlagen entgegenging, in der Welt aber viel mehr in Gang brachte, als ein Pessimist und ein ewig gemäßigter Mensch wie sie einer war, die jedes Risiko, jedes unbezahlte Engagement für eine gute Sache für eine Schwäche oder eine Dummheit hielt.
»Ich fühle für dich nicht das Gleiche wie du für mich«, wiederholte er nochmals, aber so eindringlich, dass er sie dieses Mal aus den Gedanken riss.
»Na und«, sagte sie, ohne dass ihr Tränen in die Augen traten. »Was ist denn schon dabei. - No risk no fun

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