Donnerstag, 13. Oktober 2011

Wassersucht

Gewiss bei ihrem Bauch konnte man fast meinen, dass sie mit einem Kind ginge. Ihr ganzer Leib hatte sich verändert: die Brüste waren angeschwollen und deren Warzen röter geworden. Sie hatte nicht mehr denselben leichten Gang und musste sich öfter hinsetzen. Man konnte es gewahren, wenn man wollte. Schließlich war sie stets unterwegs, ging täglich zum Markt, holte Wasser, arbeitete im Wirtshaus und manchmal im Feld, sammelte Holz, schnitt Gras und saß zum Mindesten dreimal die Woche in der Kirche. Auch spürte sie jeden Morgen ein Würgen im Hals. Sie neigte mehr zum Aufbrausen und war verdrießlicher als sonst. Aber sie spürte nichts in ihrem Bauch, außer, dass er sich bisweilen aufblähte wie ein Schwamm voller Wasser, um gleich darauf wieder zu vergehen. Anfangs zweifelte sie am Vorhandensein der zarten, aber beunruhigenden Regungen, die sie von außen heimzusuchen und wie plötzliche Lichtstrahlen zu durchfahren schienen, als ob sie nicht den Mut gehabt hätte, sich ihr Unbehagen zu erklären, dass da etwas in ihr schlummerte, dass sich etwas ansammelte, das irgendwann hervorbrechen würde. Sie sah einfach darüber hinweg und legte sich schließlich eine Erklärung zurecht, als sie bemerkte, dass ihre monatliche Reinigung ausgeblieben war. Gewiss ihre Blutungen verhielten sich mehrenteils sehr unordentlich, nicht wie bei anderen Weibern, bei denen – wie beim Mond – eine wechselseitige Beziehung mit der Zeit bestand. Daher nannte man sie ja auch die Regel – oder Mondblut. Bei Aufregung etwa setzten sie mitunter mehrere Wochen aus, oder wenn sie Most getrunken, eine Kernsuppe gegessen oder zu heftig getanzt hatte. Dann empfand sie ihren Leib morgens dünn, abends aber hart und dick. Die Härte ihres Leibes war dieses Mal aber geblieben. Dies rührte, wie sie anfangs glaubte, von einer Verstopfung des Geblüts. Das monatliche Blut war demnach in ihre Brüste und ihren Unterleib gezogen, statt auf natürlichem Wege ausgeführt zu werden, und hatte dort Geschwülste gebildet, die ihres Dafürhaltens nach, bald aber wieder hätten vergehen sollen. Das waren sie aber nicht.
Daher war sie, zwei Wochen bevor die Nachbarsweiber auf ihrer Türschwelle erschienen waren, Anton Kempe, den Barbier, dem man die Heilgabe nachsagte, um Rat und Hilfe angegangen. Das ganze Volk lief zu ihm.
Der große, hagere Mann mit den himmelblauen wachen Augen strich mehrmals über ihren Bauch, nachdem er seine Hand mit seinem eigenen Speichel benetzt hatte. Er dachte lange hin und her und unterzog sie einem Aderlass.
„Es ist die Wassersucht, die dich quält“, sagte er, „eine üble Krankheit, die die Eingeweide befällt und den Bauch und manchmal auch die Arme und Beine anschwellen lässt. Der Magen ist dann voller faulem Schleim, der ausgeführt werden muss, weil er sich sonst wie die schlechten Säfte und übelriechenden Dünste eines Dunghaufens überall ausbreitet und den ganze Leib mit Gestank verdirbt.“
Er gab ihr einen Schwitztrank von Wein und Safran, um das Geblüt wieder in Gang zu bringen. Es kam aber nicht wieder in Gang. Stattdessen wand und krümmte sie sich am folgenden Morgen, aß drei Bissen und spuckte sie wieder aus und bekam zuletzt überhaupt nichts mehr hinunter.
Sterbensübel ging sie daraufhin zum Wundarzt. Der setzte seine Augengläser ab, klopfte mehrmals fest hintereinander gegen ihren Bauch und horchte, ob dessen Klang dem einer Trommel glich.
„Es ist eine Krankheit im Bauchraum“, sagte er, als ob sie das noch nicht gewusst hätte. Die Wassersucht habe bei ihr angesetzt, erklärte auch er. Sie äußere sich in Schwellungen des Bauches, der Gliedmaßen wie auch der Brüste. Sicher habe sie rohe oder ungekochte oder noch nicht ganz gare Speisen zu sich genommen, die zudem vielleicht übermäßig fettig oder saftlos gewesen seien. Er erzählte etwas von der Galle und der Milz und dem Magen, der an der Innenfläche gerunzelt und aufgeraut sei, damit er die Speisen festhalten könne, wie auch der Maurer seine Steine aufraue, damit sie den Mörtel annehmen und festhalten können, damit er nicht zerfließe oder abbröckele, was sie aber alles nicht recht verstand.
Zwischen all seinen Pulvern, Latwergen, Kräutern, Wurzeln, seinen Näpfchen, Schächtelchen, Destillierkolben, Glocken, Kesselchen und ähnlichem Zeug, das er auf einem wurmstichigen Regal aufbewahrte, kramte er von ganz hinten eine alte Flasche ohne Aufschrift hervor, die bis zum Rande mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war.
„Dieses Nachtlaxier“, sagte er und schüttet etwas davon in einen Becher, den er Anna anschließend übergab, „führt alle Unreinigkeiten des Magens und der Gedärme ab. Nimm es zu Nacht vor dem Schlafengehen in einem Löffel voll Wein oder Bier.“
Sie tat, wie ihr geheißen wurde, drei Mal, wachte aber in der jeweiligen Nacht regelmäßig mit heftigem Bauchgrimmen auf.
Schließlich wandte sie sich an den städtischen Henker, zwei Tage bevor die Weiber bei ihr aufgetaucht waren, obwohl ihr der Gang zu dem windschiefen Häuschen am Weißenturm nicht einfach gefallen war. Besonders die Aussicht, dass seine rächenden Hände sie vielleicht berühren könnten, bereitete ihr zusätzliche Übelkeit.
Wie viele seines Gewerbes betätigte sich auch Meister Franz als Heilkundiger und wie der Wundarzt versorgte auch er die Knochenbrüche und Wunden der Speyerer Bürger, obwohl ihm alles Medizinern vom Rat aufs strengstens untersagt war. Durch die Kenntnis der Schmerzen der ihm überantworteten Armen Sünder, hieß es, verfüge er über ein nahezu untrügliches Wissen über den menschlichen Leib. Dazu kämen seine geheimen Arzneien, die schon viele Kranke und Gebrechliche zur Heilung und Gesundung verholfen hätten. So sagte man, dass ein Galgenstrick, der durch ihn seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt worden war, um die göttliche Ordnung nach einem Verbrechen wiederherzustellen, Kopfweh und Zahnschmerzen lindere, wenn man ihn um die Schläfe band. Eine ganze besondere Heilwirkung könnten aber auch die Körperteile eines von ihm hingerichteten Armen Sünders entfalten: die Haut eines Gevierteilten helfe gegen die Gicht, das Hirn eines Gehängten gegen den Biss eines tollwütigen Hundes, das Blut eines Enthaupteten gegen die Fallsucht und das Haar von der Scham eines hingerichteten Ehebrechers, in einem Tuch um den Unterleib getragen, gegen die Unfurchtbarkeit. Zu alledem war er in der Urinschau bewandert. Aus dem Kammerwasser könne er neben dem Alter und Geschlecht jedes rätselhafte Leiden seines Besitzers und dessen nächste und entfernte Ursache, sogar dessen Ausgang bestimmen, was Anna letztendlich bewog im Schutze der Dunkelheit mit einem Becher ihres Urins, der zugedeckt bleiben musste, damit der giftige Dunst nicht ausrauchte, zu ihm zu schleichen.
Gott sei Dank, hatte er sie nicht berührt, nur den Becher, den sie anschließend in den Abort geworfen hatte. Den Harn füllte er in ein eigenartiges gläsernes Gefäß, das einem Hufeisen ähnelte. Er hielt es gegen das Licht, drehte es mit prüfendem Blick hin und her und sagte mit ernster Miene: „Das sieht gleichwohl nicht zum Besten aus!“ Und wie die beiden medizinischen Herren zuvor sagte auch er schließlich: „Es ist die Wassersucht.“ Auch er gab ihr ein Heilmittel gegen Entgelt, ein Pulversäckchen, das sie in einen Krug Wein hängen und nach drei Vaterunser trinken solle, was sie zuhause angekommen auch sofort tat, und eine Meerrettichwurzel. Gerieben und löffelweise eingenommen sei sie nützlich gegen die Vergiftung.
Seither war es ihr wirklich besser. In aller Einfalt hatte sie damals gedacht, man könne den Bauch, wenn er weiter anschwelle, unter allerlei seltsamen Zeremonien einfach aufstechen, wie beim Aderlass, um das Wasser wie auch das gestaute Blut herauszulassen. Dann würde sie wohl wieder gesund werden. Keiner der dreien hatte von einer Schwangerschaft gesprochen, ja noch nicht einmal gefragt, ob sie mit einem Mann zu tun gehabt habe, wie es die Nachbarsfrauen taten, als sie stirnrunzelnd ihren dicken Leib betasteten, als hätten sie eine Fährte aufgenommen. Anna hätte es abgeleugnet, wie sie es auch gegenüber den Weibern abgeleugnet hatte, die Beine unter dem Rock zusammengezogen und die Hände zur Faust geballt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. 

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