Donnerstag, 22. Dezember 2011

Autosuggestion

Christina fühlte sich seltsam, als wäre sie inwendig hohl und ihr Körper nur Haut und Knochen, eine aufgeblasene Schweinsblase, die man mit einer feinen Nadel zum Platzen bringen konnte. Hinzu kam ein unerklärliches Kribbeln, fast so, als krabbelten Ameisen unter ihrer Haut, manchmal auch ein Pochen in einzelnen Körperteilen, besonders in den Gliedmaßen, das mit unangenehmen und ebenso unerklärlichen Stichen einherging und einer Hitze, die von den Füßen zum Kopf hochstieg und vom Kopf zu den Füßen ging. Legte man eine Hand auf ihre Stirn, fühlte man aber nichts Besonderes. Man sah auch nichts. So angestrengt man sie auch betrachtete. Daher musste sie weiter arbeiten, selbst wenn sie die einfachste Verrichtungen wie Spinnen oder Nähen nicht mehr fertig brachte.
Ihr Kopf war von allen Gedanken und auch Erinnerungen entleert. Mitunter wusste sie nicht mehr wer sie war und was sie tat, erlebte alles wie unter einem Schleier, und wenn sie die Dinge ganz unverhüllt schaute, so erfasste sie dieselben höchst selten so, wie sie waren oder wie sie sein mussten. Folglich war es ihr auch nicht mehr erinnerlich, wie und wann das Übel begonnen hatte.
Man hatte sie auf dem Boden im Stalldung liegend gefunden. Daran konnte sie sich noch gut erinnern, nicht aber wer sie gefunden hatte. Vielleicht war es der Knecht gewesen? Vielleicht aber auch der Wirt?
Mit großer Beschwerde war sie aufgestanden - man hatte ihr dabei geholfen – und hatte ein solches Rumpelwerk, ein Rumoren in ihrem Bauch verspürt, dass sie gleich darauf in die Wirtsstube gerannt war, um eine halbe Flasche Branntwein zu trinken, durch den sie beinahe endgültig von aller Vernunft gekommen wäre, wenn sie sich vorher nicht, aus lauter Übelkeit, die ihr der Alkohol bereitet hatte, den Finger in den Hals gesteckt hätte.
Am Anfang war nicht mehr als ein wenig Wasser herausgekommen, das nach Galle und vergorener Milch gerochen hatte. Doch nach langem Quälen hatte sie etwas hervorgewürgt, das einem fingerlangen Wurm oder Reste eines Wurms nicht unähnlich war. So genau hatte sie es nicht erkennen können, denn es war sofort im Abtritt verschwunden.
Entsetzt war sie zur Kellerin, dem Kräuterweiblein, in die Himmelsgasse gestürzt und hatte ihr mit dünner Stimme ihr Leid geklagt.
„Was ich sage, ist wahr“, beteuerte sie ihr unter Tränen. „Ich erfinde niemals Geschichten. Ich verbürge mich bei meiner Ehre, für das, was ich erlebt habe.“
Die kleine, verwachsene Gestalt stand mitten in der Küche auf einen Stecken gestützt, an dem noch die Rinde haftete, und hörte ihr regungslos bis zum Ende der Rede zu. Daraufhin legte sie ihren Stock auf einen Stuhl, ganz vorsichtig, als ob es von Bedeutung wäre, ging zum Wasserbottich, der vor der Türschwelle stand, beugte ihr schlimm verkrüppeltes Rückgrat tief nach unten und tauchte die Hände ins Wasser, etwa drei Vaterunser lang.
„Es erscheint vielen beinahe wie ein Wunder“, sagte die Alte schließlich und richtete sich auf, „dass die Würmer, vor allem, weil sie lang und rund sind, emporsteigen und durch Mund und Nase herauskommen.“ Sie spreizte ihre noch feuchten Hände und versprengte das Wasser mit mehreren schüttelnden Bewegungen wie mit einem Weihwasserwedel in den Raum. „Aber das ist nun einmal so, wenn derjenige schlecht isst oder schlecht wohnt, was eine gewisse Verstimmung im Magen und in den Eingeweiden hervorruft, die geeignet ist, die Würmer zu reizen, die ansonsten still und ruhig sind.“ Sie machte eine Pause, während sie sich die Hände an ihrem Fürtuch abwischte. „Isst du denn schlecht?“
Christina überlegte. Noch nicht einmal das wusste sie genau. Ihr Kopf war schwach. Sie konnte einfach nichts mehr zusammenbringen. Schließlich antwortete sie, wortkarg, was gar nicht ihre Art war: „Ich kann nichts Rechtes hinunterbringen.“
Die Kellerin sah sie wieder lange an, ohne etwas zu sagen, und nickte endlich bedächtig mit dem Kopf. „Das ist es“, sagte sie leise wie zu sich selbst und trottete in die Küchenmitte zu dem Stuhl, auf dem der Stecken lag. „Wenn der Mensch lange Zeit nüchtern gewesen ist, oder nahezu nüchtern, dann nagen die Würmer am Magen, denn sie sehnen sich nach Nahrung. Und weil sie nach einer gewissen Zeit nichts bekommen, um sich zu ernähren und am Leben zu erhalten, steigen sie empor und suchen nach Speise, bis sie schließlich im Rachengang der Kehle ankommen.“ Während sie sprach, hielt sie den Stecken in der Hand, um damit wie zur Verdeutlichung den aufwärts führenden Weg der kleinen hungrigen Schmarotzer mit einer zittrigen, aber gewandten Bewegung nachzuzeichnen, angefangen an Christinas Unterleib bis hin zu ihrer Kehle.
Leicht nur berührte sie Christinas Brust, dass es dieser ganz anders wurde, und in diesem Moment bemerkte sie auch, dass etwas Lebendiges unter ihrer Herzgrube kniepte und fraß. Sie stellte sich vor, wie all diese winzigen Würmer – Wie viele mochten es denn sein? –  sie zum Gegenstand ausgesuchter bübischer Unternehmungen machten und in ihrem Kopf und ihren Gliedern die unsäglichen Empfindungen verursachten, welche sie schon seit Tagen peinigten.
„Aus einem gewissen Scharfsinn und einer natürlichen Neigung heraus“, erklärte die Kellerin weiter und setzte den Stecken auf den Boden, „spüren die Würmer, dass die Speise auf diesem Weg in den Magen kommt. Und weil die Nase auch ein Kanal ist, der in die Kehle einmündet, gehen sie auch hierin und kommen vermittels des Niesens heraus oder werden mit den Fingern herausgeholt. - Ich habe oftmals gesehen, wie dies auch bei gesunden Menschen vorkommt. Du brauchst dich also nicht zu sorgen. Brauchst nur zu essen. So werden die Würmer wieder in die Eingeweide zurückgedrängt.“ Sie kramte in ihrer Schürze ein kleinen Beutel hervor und streckte ihn Christina entgegen. „Zur Sicherheit nimm das und bereite einen Sud daraus. Das wird dir helfen. Es sei denn“, sie unterbrach sich plötzlich und tat ganz geschäftig. „Ich muss jetzt ...“
„Was?“, fragte Christina.
„Die Kräuter werden dir schon helfen.“
„Was?“, wiederholte Christina leicht gereizt.
„Es sei denn jemand hat dich vergiftet!“
Christina lachte, nahm den Beutel und drückte der Alten etwas Geld in die Hand. Wer sollte sie denn vergiften wollen! Wenn schon nicht reich an Gut, so war sie doch reich an Seele. Sie war allen Menschen hold, tat ihnen gut und dachte stets nur an das Beste!
Sie lachte auch noch auf dem Nachhauswege. Womöglich war das ein gutes Mittel gegen die Würmer?
Aber als sie nach Haus gekommen war und sich im Spiegel betrachtet hatte, war ihr das Lachen vergangen. Denn ihr Gesicht war trotz der sommerlichen Bräune bleich, ihre Augen funkelten stärker als zuvor, und ihr Mund sah aus wie ein schmaler Strich.
Vielleicht hatte man sie doch vergiftetet?
Als sie zu Bett gegangen war -  früher als sonst - , dachte sie immer noch daran, obwohl es ihr etwas besser ging.
Über der Erinnerung an den ausweichenden Blick der Alten war sie schließlich eingeschlafen, um nachts zur zwölften Stunden durch ein überlautes Poltergeräusch aus dem Schlaf geschreckt zu werden. Es war ihr, als würden Fässer die Treppe hinuntergeworfen. Sie wollte schon ansetzen, um sich lautstark über das nächtliche Treiben zu beklagen, als ein schreckliches Sausen und Pfeifen begann, als flögen Nüsse aus den Schubladen an die Wand. Flugs zog sie die Decke über den Kopf, damit sie sich durch die hölzernen Früchte zu allem Übel nicht auch noch äußerlich verdarb, und schickte eins, zwei Ave Mariae gen Himmel. Denn der nächtliche Beschuss kam ihr fürwahr nicht ganz geheuer vor.
Sie lag noch im Gebet, als das Gepolter und Getöse mit einem Schlag verstummte. Darauf folgte Stille, nichts als Stille. Kein Knistern und Knacken, kein Rascheln und Rollen, kein Wispern und Pispern, kein Schnarchen und Schnaufen. Nur Stille. Es war so, als ob die Vögel des Himmels bei helllichtem Tage ganz plötzlich und unerwartet verstummt wären. Noch nicht einmal in ihrer Herzgrube kniepte und fraß es.
Ja, war sie vielleicht schon tot?
Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett, um sich selbst zu vergewissern und vor allem aller Welt zu bekunden, dass sie noch nicht verschieden sei, und stürzte zur Tür, ohne auf die Haselnüsse zu achten, die auf dem Kammerboden überall herumkullern mussten. Dabei bemerkte sie sehr wohl, dass dort rein gar nichts lag, auf dem sie hätte ausrutschen können.
Sie begann die Treppe hinunterzuschleichen. Jede Stufe verriet sie durch ihr Knarren. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Sie bildete sich ein, das Geräusch von neuem zu hören, war sich aber nicht sicher. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Nur rauschende Stille und ihr pochendes Herz. Wieder schlich sie sich drei Stufen hinunter. Wenn doch nur der Wirt da wäre und...  Sie war noch vier Stufen vom unteren Treppenabsatz entfernt. Unten angekommen, war nichts zu sehen, was die Ursache für den nächtlichen Lärm hätte sein können.
Es war wie im Traum.
Vielleicht träumte sie ja auch?
Niemand wuchtete Fässer durch das Haus. Es war wie allezeit in der Nacht, wenn sie auf den Nachstuhl musste. Sie hatte lediglich das Gefühl, dass etwas um sie herum war, das sie zwar nicht sah, wohl aber gehört hatte, wenn auch nur kurz, und welchem sie ihre sämtlichen körperlichen Beschwerden und alle Anfechtungen des Gemüts zuschreiben konnte.
Als sie die Treppen wieder hinaufstieg, glaubte sie hinter sich, ein huschendes Geräusch zu hören wie von Ratten, ein Rascheln. Sie meinte eine Bewegung wahrgenommen zu haben, doch als sie sich umwandte, war alles still.
Es war sicher ein Luftzug, dachte sie und stieg wieder zurück in ihr noch warmes Bett.
Sie war ganz weit weg und zitterte und wartete darauf, dass sie wieder zum rechten Gebrauch ihrer Gemütskräfte gelangte, dass ihr Kopf stark wurde.
Das Böse bemächtigt sich schnell eines Menschen, dachte sie.
Sie schloss die Augen und ließ sich treiben. Es war kein eigentlicher Schlaf, sondern eher ein leichtes Nickerchen. Sie wusste, sie lag auf dem Bett, und versuchte zu ergründen, was gerade mit ihr geschah. Die Gedanken verhäkelten sich allmählich in ihrem Hirn.
Vielleicht hatte man sie doch vergiftet?
Nicht mit einem Trank, einer Salbe oder einem Pulver, sondern mit dem bloßen Wort...
Denn das Wort besaß eine große Kraft, wenn es in starkem Verlangen und in der richtigen Absicht gesprochen wurde. Alle Wunder der Welt geschahen durch das Wort und auch alles Übel war durch das Wort in die Welt gekommen.
Sie dachte an die Wunder des Herrn, von denen die Pfaffen erzählten. Sie dachte auch an die Heimsuchungen des Teufels. Sie dachte aber auch an die unterschiedlichsten Kräuter, die ihre heilende Wirkung nicht von Natur aus entfalten konnten, sondern nur dann, wenn bestimmte geheime uralte Riten eingehalten wurden; und dazu gehörten auch formelhaft ausgesprochenen Worte, - auch, wenn man sie meist nicht verstand. Sie dachte an Gebete, Wünsche und Bitten, die in Erfüllung gingen, auch an Zaubersprüche und – formeln.
Alles Worte! Man sah zwar nicht, wie sie ihre Kraft entfalteten, aber man konnte sie hören. Das lautlose Lesen half da wenig. Das galt auch für Flüche, durch welche man Unheil auf einen anderen oder auf dessen Habe oder auch auf sich selbst herabwünschte. Ein im Augenblick des Todes ausgesprochener Fluch erfüllte sich auf wunderbare Weise ...
Die Alte hatte Recht!
Christina pochte das Herz in der Brust. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie war auf der richtigen Fährte.
Noch spürte sie die Schwäche des Verstandes, doch die verlorenen Geisteskräfte kehrten allmählich zurück. Und je länger sie über die Macht der Worte nachdachte, um so gewisser wurde sie sich, dass man unnatürliche Dinge mit ihr trieb, die durch Worte hervorgerufen worden waren, dass man sie verflucht hatte.
Eigentlich hatte sie es ja schon immer gewusst!
Sie wusste, dass die Flüche eines betrogenen Mädchens ebenso sicher in Erfüllung gingen, wie die einer Schwangern.
Das hatte sie selbst erlebt: damals, als die schwangere Hauberin den Teich neben der Mühle verflucht hatte. Daraufhin hatte kein Mensch mehr einen Fisch daraus zu essen bekommen.
Plötzlich standen die Worten über ihr, die der schwangeren und übelbeleumdeten Anna einfach so in einer Art Wut entwischt waren, und die sie, Christina,  aus ihrer Erinnerung geschoben hatte: „Du sollst keine guten und gesunden Tage mehr haben, sollst blind, lahm und krumm werden. Das fallende Übel soll über dich kommen!“
Christina stürzte wieder aus dem Bett und begann ihre Kammer zu durchwühlen. Sie wusste selbst nicht, nach was sie suchte. Es musste etwas sein, was nicht ihr gehörte, etwas, was nicht ohne Mühe zu finden war und was demnach nicht einfach so unter ihrem Bett oder in der Truhe lag, sondern etwas, was sich verborgen hielt. Etwa einer kleiner eitergelber Kieselstein, der dafür sorgte, dass es unter ihrer Haut kribbelte und krabbelte, solange er sich in ihrer Kammer befand. Oder ein kleines Säckchen, das sehr viele Dinge enthielt, wie Körner als auch Samen, in das Knochen, Haare, Sauborsten, Kalk, Wachs und anderer Unflat eingenäht war, der Raserei und Sinnesverwirrung bewirkte, dass sie unsinnig im Haupt wurde.
Sie riss das Kissen auf, zertrennte ihre Kleidung, selbst die feinste Naht. Doch sie fand nichts. Keine wunderlichen Samen, keine Knollen, die sie nicht kannte, keine Rossnägel, kein farbiges Pulver, keine Bänder, Netze und Federn, die ihr fremd vorkamen, keine Häute und kein wächsernes Männchen, wodurch sie gequält werden sollte, auch keine Krötenknochen und die feinen Knochen eines ungetauften Kindes.
Aber was braucht ein Fluch anders als Hass, dachte sie, als sie vor den zerfetzten Kleidungsstücken stand, die jetzt nichts anderes mehr als Scheuerlappen waren. Hass und Fluch gehörten zusammen wie Liebe und Versöhnung. Wenn sie sich recht besann, hatte sie den Duft von Annas Hass geradezu gespürt. 

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