Mittwoch, 21. Dezember 2011

Spuren

Bereitwillig folgte ich ihm und machte es mir ein zweites Mal im Sessel bequem.
»Erinnern geschieht gewöhnlich unbewusst«, begann er, indem er sich mir gegenüber setzte. »Es erfordert Mühe, sich Erinnertes bewusst zu machen, es der Gefahr des Vergessens zu entreißen.« Er streckte mir das Weinglas entgegen. »Ich habe Ihnen angesehen, dass Sie mit meiner Gläsersammlung nichts anzufangen wissen. - Sehen Sie hier den roten Lippenstiftabdruck.«
Ich nickte.
»Spuren wollen gelesen werden. Der Entdecker solcher Spuren muss sie so deuten, dass eine Geschichte entsteht, deren einfachste Formulierung etwa so lauten könnte: Hieraus hat jemand getrunken.« Er lächelte und hob viel sagend die Augenbrauen. »Die ersten Geschichtenerzähler müssen wohl Jäger gewesen sein. Weil sie als einzige fähig waren, in den stummen Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen.« 

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