Montag, 5. Dezember 2011

Schwermut

»Die Zunge«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo ich meine Zunge hinlegen soll.« Sie umgab ein schweres, undurchdringliches Dunkel und hielt ihr Hirn wie mit eisernen Klammern umfasst.
Er lehnte sich nach hinten gegen sie, angezogen von dem vertrauten Geruch ihres Haars. Plötzlich zitternd angesichts der Gefahr dessen, was geschehen würde, löste er seine Finger von ihrem Arm.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte sie. Ihre warmen Lippen streiften seine Wangen, und dann strich sie in einer Geste beiläufiger Vertrautheit das Haar aus seinem Gesicht.
Laute Stimmen, ein vergnügter Ausruf gefolgt von behäbigem Lachen hallten unvermutet durch den Innenhof.
»Es war dein Wunsch«, sagte er leise. »Nicht meiner.« Er stand auf und sah sie an. Ihr Blick war leer und unbeteiligt. Er spürte ihre wirkliche, ihre unheilbare Wunde, die schwermütige Antriebslosigkeit, die Traurigkeit, die sich zwischen ihnen wie eine Wüste erstreckte; sie kam und ging wie ein fremdes Wesen. Sie hatte verhindert, dass sie ihre Talente voll ausschöpfen konnte, hatte ihrer beider Leben in den letzten Jahren zu einer Tortur werden lassen. Sie hatte es ihnen überhaupt unmöglich gemacht, die einfachen Freuden des Lebens zu genießen, die anderen Menschen durch das Leben helfen.
»Weck mich morgen früh«, sagte sie. »Und wenn ich nicht aufstehen will, dann zieh mich aus dem Bett.«
Wie ein Schatten stand er im Raum und ging mit seinen harten Augen über den schmutzigen Boden. »Hast du mich deswegen kommen lassen?«
Sie antwortete nicht.
Plötzlich empfand er eine wütende Empörung, nicht darüber, dass sie schwieg, sondern dass sie ihn wieder einmal mit einer aufreizenden Gelassenheit instrumentalisierte. »Ich kann doch dein Leben nicht leben«, sagte er, »nur weil ich es verstehe, besser zu leben.«
Sie stand auf und mit einem Male lag sie ihm am Hals. Ihm war, als hätte er ihr Herz leibhaftig und blutend und stoßend in seine Hand, und es rönne ihm über die Finger. Nie wieder würde er ein fremdes Leben so fühlen. 

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