Donnerstag, 1. Dezember 2011

Der Kuss

Sie hat auf dich gewartet, während sie hinter ihren halbgeöffneten Fensterläden saß. Durch die Schutzgitter belauert sie jeden Augenblick des Tages. Die Passanten, die Besucher wissen, und auch du weißt, dass sie dort sitzt, denn du hörst sie husten, zur Zeit der Siesta genau wie am kühlen Abend. Sie hat jede deiner Gesten beobachtet, während du dich von ihm verabschiedet hast. Du hast dir eingebildet, sie würde dich dabei bespitzeln. Aber als du ihr Zimmer betrittst, siehst du ihre Augen glänzen und weißt, mit wem du es zu tun hast. – Als ob eine Freundin der anderen zur Spionin werden könnte!
»Wenn es dich nicht gäbe«, sagst du jetzt unverstellt und voll Herzlichkeit, während du an das Fenster trittst und hinausblickt, um zu prüfen, ob sie wirklich alles gesehen hat, »wüsste ich gar nicht, wo ich mit all meinen Problemen hin sollte.« Du hältst inne und wartest, dass sie dir etwas Ähnliches entgegnet.
Doch sie entgegnet nichts. Ihr Blick senkt sich verschleiert auf dich, und hinter diesem Schleier ahnst du eine zögernde Zärtlichkeit.
Du zügelst dein Verlangen, sie auszufragen, was du für sie bedeutest, denn du willst, dass sie es von sich aus sagt. Du bist zu stolz, um solche dummen Fragen zu stellen wie »Was bedeutet ich dir?« oder »Liebst du mich?« Zumal sie nicht dein Liebhaber ist. Sie ist deine beste Freundin. Zumindest glaubst du das. Aber wie kannst du dich ihrer versichern, damit du ihr endlich sagen kannst, was sie schon weiß? - Dass er dich zum Abschied geküsst hat.
Aus Verlegenheit, betastest du mit deinen frisch für ihn manikürten Fingern den Stoff ihres Kleides und fragst, ob es neu sei; sagst, du hättest es noch nie an ihr gesehen. Obwohl es gelogen ist. Du stockst einen Augenblick wie verblüfft, als glaubtest du selbst nicht, dass du eine solche Lüge aussprechen könntest, während in ihren Augen etwas Neues aufflammt. Sie sieht dich scharf und fest an. Sie ist klug und erkennt jeden falschen Zug, jede versteckte Lüge, jedes verborgene Problem. Daher ist sie ja auch deiner Freundin. Du musst ihr jetzt sagen, was sie schon weiß. Du willst sie doch nicht verlieren!
Du gehst um sie herum, packst den Griff vom Rollstuhl und schiebst sie mit einem Ruck vom Fenster weg, als wolltest du sie für das, was sie gesehen hat, bestrafen, obwohl sie dich bestrafen müsste, weil du vielleicht ihre geheime Liebe geküsst hast.
»Ich will nicht«, sagt sie jetzt.
Du spürst, dass sie mehr und mehr eine nervöse Abneigung gegen dich empfindet. Mit einem geheimen Lustgefühl sucht sie nach einer Gelegenheit, dir irgend etwas Böses zu tun. Warum sonst, gibt sie dir ein Gefühl der Unterlegenheit?
»Ich will am Fenster bleiben.«
Du fühlst den Hass, der in ihrem Ton aufklingt, die angeborene Missgunst der Nebenbuhlerin und lässt den Rollstuhl los. Soll sie doch sehen, wie sie ohne dich zurecht kommt!
»Ich geh jetzt«, sagst du, ohne selbst zu verstehen, wie du derartige Worte aussprechen kannst, und stürzt zur Tür.
»Aber was ist denn?«, ruft sie dir nach. »Was ist denn mit dir los?«
Als ob sie das nicht wüsste, denkst du und drehst dich noch einmal um. Bei diesem Blick voller Nachsicht musst du beinahe kotzen.
»Du bist neidisch«, sagst du wütend, »weil du hier im Rollstuhl sitzt, während ich ihn da draußen küsse. -  Solange es mir schlecht geht, ist alles ok. Da bist du für mich da. Hörst mir zu und gibst mir Ratschläge. Weil es dir selbst schlecht geht. Weil du mich für deinesgleichen hältst. Aber sobald es mir gut geht, sobald ich glücklich bin, ist das vorbei.« Du machst eine Pause, beinahe erleichtert, während sie in ein Lachen ausbricht, in eine heiteres Lachen ohne jede Bosheit.
Sie rollt auf dich zu und versperrt dir den Weg.
»Du bist keine Heilige«, fügst du errötend hinzu, »sondern eine Scheinheilige«, und von diesem Augenblick an weicht dir die Röte nicht mehr von deinem Gesicht.
»Du bleibst hier«, sagt sie. »Bis wir alles geklärt haben.«
Sie nimmt deine Hand, sanft und ohne Eile.
»Wie lange kennen wir uns schon?« fragt sie, ohne deine Antwort abzuwarten. »Zehn, fünfzehn Jahre? – Ich weiß es nicht. Während all dieser Jahre haben wir uns gegenseitig immer nur die Scheiße erzählt, die uns widerfahren ist. Nie war etwas Erfreuliches dabei. Wir haben uns gegenseitig bemitleidet. Vielleicht auch gestärkt. Auch das, weiß ich nicht. Daher hab ich mir gewünscht, dass du mir, ohne dass ich nachfrage, erzählst, dass du glücklich bist, weil er dich endlich geküsst hat, obwohl du weißt, dass ich euch dabei beobachtet habe. Das klingt jetzt kompliziert. Aber ich hätte dann so getan, als wüsste ich von nichts, und hätte dir meine Freude so am besten zeigen können. Ehrlich! Denn nicht Mitleid macht wahre Freundschaft aus, das kann jeder, sondern Mitfreude.«

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