Dienstag, 31. Januar 2012

Die Ährenleserinnen


Sichel schwenkend sang Eva leise vor sich hin. Noch flammte die Sonne über ihr. Geblendet zog sie mit geschlossenen Augen das kurze Jäckchen aus, das ihre Schultern verhüllte. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Mit einem Wonnegefühl ließ sie sich von ihr sengen.
Sie dachte an die Stadtmenschen, die mit ihren offenen motorisierten Kutschen über die staubigen Straßen an ihr vorübersausten, um an einer schönen großen Wiese an der Selz abzubremsen, von ihren Sitzen aufzuspringen und mit Tischen, Stühlen, Decken, Körben, Flaschen und was sonst noch alles sonnenschirmbewehrt in den Schatten zu stürzen. Diese Menschen lachten viel, obwohl sie sich vor den Gefahren der Sonne fürchteten, vor dem stechenden Gefühl auf ihrer Haut, besonders aber vor der Wetterbräune. Es hieß, die Sonne fördere den Blutandrang und ließe die Adern schwellen.
Das alles konnte man in den bunten großen Blättern und Zeitungen lesen, die die Stadtmenschen unter den Bäumen liegen gelassen hatten, damit Eva sich kopfschüttelnd an den farbenprächtigen Bilder erfreuen konnte. Als ob es außerhalb des Papiers, auf das sie gebannt waren, nichts zu sehen gäbe. Eva dachte an den Blick, den man vom Hahnheimerknopf auf den Donnersberg haben konnte, oder vom Hasenberg, einer kleinen Anhöhe hinter dem Dorf, auf Frankfurt, das zu Fuß immerhin mehr als eine Tagesreise entfernt war. Wozu brauchte sie die Bilder aus der großen weiten Welt? Lesen konnten sie nicht. Sie war nie zur Schule gegangen. Warum auch? Sie trug die Sonnenglut der Erde in ihrem Herzen, und in den Falten ihres Kleides die Düfte der reifen Ähren. Das reichte vollkommen aus, um ein gutes, um ein schönes Leben zu leben.
Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie den Kirchturm hinter dem Mohnfeld in der Ferne sah und spürte den weichen Staub der Straße unter ihren Füßen und den schweißnassen Saum ihre Kleides am Hals.
Als sie am Feldkreuz vorbeikam, stand plötzlich die kleine Agnes vor ihr, kräftig, sonnenverbrannt, mit feinem Flaum an Armen und Beinen, wie eine goldene Biene. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie bemühte sich, einen Halm mit den bloßen Zehen zu fassen. Wie Eva hielt auch sie eine Sichel in ihrer Hand.
»Hast auf mich gewartet, - ne?«, fragte Eva.
Agnes nickte. Sie sprach nur, wenn es nötig war. Sie liebte das Schweigen.
Sie gingen eine Weile nebeneinander her, schweigend und die Sicheln schwenkend. Der Kirchturm wuchs und wuchs. 
»Gräm dich nicht«, sagte Eva, als sie die ersten Hunde des Dorfes bellen hörte. »Du musst ihn vergessen. Auch wenn er dir gut war.« Sie hielt einen Moment inne, um sich das Kopftuch aufzusetzen. »Dabei weiß ich gar nicht«, fuhr sie fort, »ob er gut aus Dummheit oder dumm aus Güte war?«
Agnes nickte, was so viel bedeutete wie: Ich weiß auch nicht.
»Zum Glück hat er dich mit keinem kein Kind sitzen lassen, wie mich damals der Hans.« Sie machte wieder eine Pause, pflückte sich eine Kirsche, die ihr von einem Baum entgegenlachte, - der Arm zitterte noch von der Anstrengung des langen Tages - und steckte sie schmatzend in den Mund. »Du musst ihn vergessen. Der Mensch, der nichts vergessen kann, wird mit nichts fertig, auch nicht mit seinem Leben.« Sie spuckte den Kirschkern in den Straßengraben. »Ich denk da an die Pest. Alle, die sich daran erinnern, werden fortgeweht wie Sägemehl im Wind. Ihre Grübeleien machen sie wahnsinnig, ihre Erinnerungen machen sie wahnsinnig. Nur die, die vergessen können, haben ein langes Leben vor sich, und die, die ein gutes Gedächtnis haben, sterben.«
Agnes nickte wieder, was dieses Mal so viel bedeutete wie: Ich verstehe. 

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