Montag, 5. März 2012

Misstrauen

Der Feind sei mitten unter ihnen, hieß es, parasitäre Elemente, die auf ihre Kosten lebten, sie ausbeuteten und an den Rand der Verzweiflung brächten. Die Gefahr ließ sich weder übersehen, noch übergehen. Immer näher rückte sie heran, saugte alle Aufmerksamkeit auf und besetzte ihr Bewusstsein. In dieser Stimmung schwand ihnen der Glaube, dass das Leben wie gewohnt weitergehen würden und sie auch morgen noch tun konnten, wozu sie heute imstande waren. Sie mussten etwas tun, nicht um das stolzeste Tempelhaus des schönen Menschtums zu errichten, sondern um sich ihrer Kraft zu versichern, allen Schmarotzer und Schädlingen trotzen zu können.
Paul war entschlossen. Man sah, dass er nicht scherzte. Niemand lachte über ihn, als er erklärte, dass er den Goldsteins, die im größten Haus am Ende des Dorfes wohnten,  einen sehr schmerzhaften Denkzettel verpassen wolle. Diesen Saujuden! Er würde die Glocken läuten, sagte er, wenn es soweit sei.
In der Nacht zum Freitag wussten sie, dass es bald geschehen würde. Die Fenster leuchteten spät wie in der Osternacht. Die Dörfler bereitet schweigend die Äxte, Knüppel und Schaufeln vor. Zuweilen, wenn eine Schaufel klirrte, die einer berührt hatte oder irgendwo anstieß, wenn ein Brecheisen hinfiel, erschraken sie. In der Anspannung und Stille tönte oft die Luft als klängen Glocken. Pst! Ruhig! War da nicht was? Sie lauschten, und da sie ihren Ohren nicht mehr trauten, stießen sie die Fenster auf und schoben die Köpfe hinaus. Ein kalter, feiner regen ging vom Himmel nieder. Es war feucht und unfreundlich. Es schien, als nehme die Nacht kein Ende. Man sollte doch endlich das Zeichen geben, wenn es schon unvermeidlich war. Oder hatte Paul gelogen, hatte Angst bekommen, und es würde am Ende gar nichts geben?
Sie kehrten in die Stuben zurück, irrten von einer Ecke zur anderen und überprüften noch einmal das bereitgestellt Gerät. Und plötzlich schallten die Glocken. Das Kupfer erschütterte den herbstlichen Nebel und ergoss sich in alle Winkel. Die Dörfler verließen die Häuser, drängten sich zusammen und beeilten sich. Endlich! Allen wurde leichter zumute. So unerwartet aus ihrem kalten Traum geweckt, dröhnten die Glocken heiser und jagten die von harter Arbeit gekrümmten, knorrigen Gestalten vorwärts. Vor der Kirche blieben sie stehen, wo Paul in seiner braunen Uniform auf sie wartete. Die Menge erstarrte und hielt den Atem an. Der Mut war ihnen für einen Moment in der Brust zusammengesunken.
Paul hob seinen rechten holzhammerfesten Arm zum Deutschen Gruß und sagte: »Los! Schlagt sie tot.«
Das traf die Menge wie eine Peitsche, brachte die Beine in Bewegung und trieb sie besinnungslos voran, inmitten anderer drängender Leiber, keuchender Lungen und löste eine Kraft aus, die plötzlich aus dem Schlummer erwacht war wie ein Fluss unter der Eisdecke. Vor dem Haus der Goldsteins kamen die ersten zum Stehen, während die nachfolgenden weiterdrängten. Die Tür war verschlossen.
Paul rammte sie mit der Schulter, und in der dichten Finsternis, in der man das Gesicht seines Nachbarn kaum erkennen konnte, dröhnten dumpf die Schläge, krachten trocken die Bretter. Plötzlich gab die Tür nach, und es wehte ihnen wie aus einem Abgrund entgegen. Die Leute taumelten schreiend in den finsteren Flur. Die Räume fingen das Gebrüll und trugen es durch das ganze Haus. Doch wo waren die Goldsteins? Keiner wusste es. Waren sie noch da oder bereits entflohen, schlug man ihnen schon die Köpfe ab, oder fing man sie noch ein? Ein Körper schob sich auf den anderen, und jeder spürte einen heißen, vorwärtsjagenden Atem hinter sich. Die Goldsteins waren immer noch nirgendwo zu finden. Wer hatte sie gewarnt? Warst du es Hans? Oder du, Albert? Niemand wusste es. Ein tiefes Misstrauen legte sich über sie. Sie verharrten ruhig und stumm, und in der großen Stille war ihnen, als würden sie die Schläge des verräterischen Herzens ihres Nachbarn hören. Die Zukunft glich nun vollends  nicht mehr der Gegenwart und die Gegenwart nicht mehr der Vergangenheit. 

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