Donnerstag, 8. März 2012

Ein überflüssiges Telefonat

Endlich erwachte er, umgeben von den friedlichen Geräuschen des Morgens – der Radiowecker neben dem Bett, wo man gerade eine leise Sonate von Scarlatti spielte, Vogelgezwitscher draußen im Park, das leise Knarren der Kleiderschranktür. Er schob die Bettdecke weg, blieb nackt auf dem Rücken liegen und spürte, wie die leichte Brise, die vom Strand her wehte, den Schweiß auf seiner Brust trocknete. Er dachte daran, wie er gleich den Kaufvertrag für das große, schön gelbe Haus über dem Strand mit dem Blick auf den Ätna und Taormina unterzeichnen würde. Er streckte sich und gähnte. Bis dahin waren es nur noch achtundvierzig Minuten, genug Zeit, um sich zu rasieren und zu duschen. Sein nackter, gebräunter Körper auf dem Laken und der Anblick seiner Erektion ließen ihn an Marcella denken. Er blickte auf die Uhr und überlegte, ob er masturbieren sollte, ob es nützlich wäre, für die anstehende Aufgabe einen klaren Kopf zu haben. Versonnen nahm er seinen Penis in die Hand und fuhr damit ein paar Mal hoch und runter. Er kam sich dabei lächerlich vor und ließ es bleiben. Ob er jetzt seine Frau anrufen sollte? Er betrachtete das Telefon, das auf dem Tischchen neben der bunten Holzkatze stand. Dann fasste er sich ein Herz. Sein Finger betätigte ganz sanft die Wählscheibe. Die Geräusche, die sie machte, erinnerten ihn an das muffige Büro seines Großvaters, an die vielen Stempel auf dem Schreibtisch und die Ärmelschoner, die unbenutzt neben dem kristallenen Briefbeschwerer lagen.
»Hallo«, hörte er sie plötzlich am Ende der Leitung sagen.
»Guten Morgen, mein Schatz!«, sagte er und spürte, wie sein Penis schrumpfte.
»Guten Morgen, Viktor«, sagte sie. Ihre Stimme klang abgekühlt. »Schön, dass du anrufst.«
»Bist du mir nicht mehr böse?«
»Nein. Woher denn? Du weißt ja... vor meinen Tagen bin ich immer etwas gereizt. Und du... du hast so viel um die Ohren. Überhaupt: Was macht denn der Hauskauf.«
Er erzählte ihr, dass er gleich den Vertrag unterschreiben würde und drückte sein Bedauern aus, dass sie nicht mitgefahren war. »Wo es doch um unsere Zukunft in der Sonne geht, Andrea!«, sagte er. In diesem Moment musste er wieder an Marcella denken.
Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Natürlich berichtete er ihr und sie ihm, wie die letzen Tagen nach dem Streit verlaufen waren. Andrea erzählt ihm, sie habe die Nächte durchgearbeitet und habe fast alle Abitursarbeiten korrigiert.
»Bis auf diese eine«, sagte sie.
»Ach ja«, sagte er. »Und wie sind sie ausgefallen? – Sicher macht dir dieser Abitursjahrgang wieder alle Ehre. Oder?«
»Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich damit machen soll.«
An dieser Stelle hörte er den Piepton seines Handys. Zwei-, dreimal, dann verstummte er. Vermutlich Marcella. Jetzt würde er sie bis heute Abend nicht mehr sprechen können. Er saß nackt auf der Bettkante und griff nach seiner Armbanduhr, um sie mit dem Wecker zu vergleichen. Andrea war ihm nicht mehr böse, darüber brauchte er sich also keine Sorgen zu machen, aber jetzt musste er los.
»Sie ist von diesem Schüler, der mich geküsst hat. Kannst du dich noch daran erinnern? Er hat einfach mein Gesicht in seine Hände genommen...«
»Mmm«, wiederholte er etwa alle zehn Sekunden, um zu dokumentieren, dass er ihr zuhörte. Er hatte die Schnur des Telefons so weit gedehnt, wie es irgend ging, balancierte auf einem Fuß und angelte mit dem anderen nach frischer Unterwäsche, die auf einem Stapel lag. Zum Duschen hatte er keine Zeit mehr. Zur Nassrasur auch nicht.
»Die Arbeit ist ein einziger Liebesbrief. In einem Satz erwähnt er sogar meinen Namen. Augenfälliger geht es gar nicht mehr.«
Er hatte den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und versuchte, ein Hemd aus seiner Cellophanverpackung herauszulösen, ohne Lärm zu machen. Geschah es aus Langeweile oder aus Sadismus, dass die Leute in der Hotelwäscherei unbedingt jeden einzelnen Knopf zuknöpfen mussten?
»Gestern Vormittag stand er dann vor der Haustür. Mit einem Blumenstrauß. Er sah wirklich süß aus. Wie du damals. Er ist mir nicht mehr von der Seite gewichen. Er hat hier sogar über...«
Er war schon halb in seine Hose gestiegen, als es wieder klingelte. »Mit einem Blumenstrauß«, wiederholte er und schielte auf das Display seines Handys. Es war Marcella. »So viel Dankbarkeit hätte ich von einem Abiturienten aber nicht erwartet. Die Schüler müssen dich sehr mögen. - Aber Andrea, ich komme zu spät zur Vertragsunterzeichnung. Muss losdüsen. Wie wär’s, wenn wir heute Abend noch einmal telefonieren? Dann habe ich mehr Zeit.«
»Oh. Dann ist es vielleicht schon zu spät.«
Er griff zum Handy. »Nein, es wird nicht spät.«

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