Dienstag, 6. März 2012

Talkshow


Flöter holte sich ein Bier und schaltete den Fernsehapparat an.
»Herr Dr. Fadenschein«, sagte der Moderator die Hände auf den Tisch gestützt, »mit dem Pulitzer-, dem Rainer-Maria-Rilke-, dem Georg-Büchner- und dem Deutschen Buchhandelspreis, um nur einige zu nennen, sind Sie der – Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll? – mithin am höchsten ausgezeichnete deutsche Autor.«
Dr. Fadenschein grinste unter seinem Hut in die Kamera. Ganz oben in der Ecke war noch ein Stück vom Richtmikrofon zu sehen, nicht viel, aber Flöter sah es ganz genau, so wie er immer alles ganz genau sah. 
»In ihrem neuen Roman«, fuhr der Moderator fort, »spielt die Figur des Henri Kleber, ein kleinbürgerlicher Voyeur, der den nächtlichen Strand von Perpignan nach kopulierenden Paaren absucht eine exzeptionelle, ja man könnte sogar sagen die handlungstragende Rolle.«
Dr. Fadenschein nickte.
Flöter konnte sehen, wie dessen Kinn dabei kurzzeitig zum Doppelkinn mutierte.
»Was interessiert Sie so sehr an dieser Figur?«
»Naja«, sagte Dr. Fadenschein genüsslich und rückte ein Stück auf dem Sessel vor, sodass sein Kopf den ganzen Bildschirm ausfüllte. »Alle Künstler wollen die Menschen in einem wirklichen, echten Augenblick sehen, in dem sie einfach nur sie selbst sind.«
»Wie beim Sex?«, fragte der Moderator.
»Ja, wie etwa beim Sex«, antwortet Dr. Fadenschein voller Gefallsucht, indem er jedes Wort in die Länge zog.
»Och komm!«, sagte Flöter, obwohl ihn niemand hörte. Es war ihm einfach so herausgerutscht. 
 Dr. Fadenschein zupfte sich am Bart. »Ein Voyer ist am Sex beteiligt, - und wiederum nicht daran beteiligt. Mir fällt hier die jaspersche Subjekt-Objekt-Spaltung ein. Eine erkenntnistheoretische Grundstruktur. Auf der einen Seite steht der Erkenntnisgegenstand, das Objekt – in meinem Roman, die vögelnden Pärchen - und auf der anderen der Erkennende, das Subjekt – der Spanner.«
»Och komm!«, sagte Flöter wieder, während Dr. Fadenschein weitersprach, und stand auf.
»Zwischen beiden besteht naturgemäß eine unaufhebbare Differenz. Durch die Beobachtung des Spanners nun wird diese Differenz zwar nicht aufgehoben, aber transzendiert. Das ist ein erkenntnistheoretischer Akt erster Güte. Ich würde sogar sagen, ein durchaus äußerst schmerzlicher existenzieller Akt, der das ganze Elend des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringt. Daher heißt der Roman ja auch ›Ich bin nicht Du!‹ Er machte eine kleine Pause, um den Hut abzunehmen. »Diese Differenz wird in den Momenten, kurz bevor sich etwas ereignet, als besonders schmerzlich empfunden. In diesen Momenten sind alle Sinne geschärft. Die Franzosen sprechen von einem chaisement. Man erlebt es z. B. in Kneipen, wenn sich eine Rauferei anbahnt, wenn die Stimmung oder die elektrische Spannung sich ändert. Sex konzentriert gleichsam alle Sinne auf sich, schärft die Wahrnehmung. Und das wollen sich Künstler nicht entgehen lassen.«
Flöter hatte sich mittlerweile vor dem Fernseher aufgebaut. „Du willst dir das nicht entgehen lassen“ sagte er und drehte den Ton ab.
Dr. Fadenschein lächelte süffisant.
Flöter stützte die Hände in die Hüfte. „Und wenn wir schon einmal dabei sind, kannst du mir gleich mal sagen, was ein Erzähler ist, der nur von sich selbst erzählt?“ Er machte eine Pause. »Sag schon! Und erspar mir bitte diesen selbstreferenziellen Scheiß.« Er machte wieder eine Pause. »Ich will wissen, was ein Erzähler ist, der nur von sich selbst erzählt! He, sag schon? Hallo! Da bist du nicht mehr schlagfertig. Wie? He! - Hallo! Ich kann es dir sagen. – Er ist entweder ein Neurotiker, dem die Krankenkasse keine Therapie mehr bezahlt, ein Psychopath, der noch nicht auffällig geworden ist oder ein Wichser, der sich die Finger nicht schmutzig machen will. Und jetzt rate mal, was du für einer bist...« 

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