Mittwoch, 7. Dezember 2011

Engel


Ein Mann, der es zuließ, dass er so roch, lebte sicherlich allein und war mit niemandem befreundet. Sie stellte sich vor, dass er irgendwelche schmutzigen Dinge tat und sich nichts dabei dachte, dass er mit Nutten schlief. Er war ein Mann ... Und irgendwie musste er seine Triebe befriedigen.
Sie kamen in sein spärlich möbliertes Zimmer. Am Fenster stand ein Schreibtisch, davor ein Stuhl. Zwei Sessel, deren Polsterbezüge blankgewetzt waren, und ein Abstelltisch in der Mitte des Zimmers, eine Bettcouch, ein großer Schrank und ein Bücherregal an der Wand. Aber überall dazwischen auf dem Teppichboden, der an einigen Stellen nahezu durchgeschlissen war, und auch auf dem Schrank standen oder lagen Engelsfiguren herum, kleine und große beflügelte, aber staubbedeckte Wesen: Friedensengel, Liebesengel, Gartenengel, Musikengel, Alpenengel, Kerzenengel, Engel mit Teelichthaltern, Schutzengel und Kindsengel, niedliche Putten mit Kopf und Flügeln, Erzengel, gewaltige Lichtgestalten mit vier oder sechs Flügeln oder gar mit Tierfüßen, Seraphim und Cherubim, Todes- und Racheengel, in denen der Zorn Gottes Gestalt angenommen hatte.
»Sie staunen über die vielen Engel?« fragte er. »Nicht wahr? – Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht aufgeräumt habe, aber ich konnte nicht wissen, dass ich so spät in der Nacht noch einen so reizenden Besuch wie Sie mit nach Hause bringe. – Aber nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf einen der Sessel. »Tja«, fuhr er am Türrahmen stehend fort, während sie sich durch die staubigen Engel hindurchkämpfte, langsam, damit sie keinen an- oder schlimmstenfalls umstieß. Man konnte ja nie wissen, was dabei alles aufstob: kleinste Lebewesen, die in ihren Mund gelangten und sich in ihren Nasenlöchern festsetzen konnten. Schuppen, Schorf und getrockneter Schleim. Sie wagte kaum zu atmen. »Ich betreibe einen kleinen Webshop. Mit den Engeln. Aber das Geschäft läuft nicht mehr so gut. Ich weiß nicht, warum. Am Anfang wurden mir die Engel noch regelrecht aus den Händen gerissen. Aber jetzt … Ganz anders ist es mit den Engelsessenzen.« Er deutete auf die kleinen, braunen Arzneifläschchen, die auf dem Fenstersims standen. »Das Geschäft boomt regelrecht.« Er räusperte sich, als sei es ihm unangenehm, darüber zu sprechen. »Aber was rede ich da? Es interessiert sie ganz sicher nicht.«
»Doch«, versetzte Marina schnell, die von so etwas noch nie gehört hatte. Sie war gerade am Bücherregal vorbeigekommen und musste einen Schritt zurücktreten, um keinen der Engel, die auf dem Boden herumstanden, umzustoßen. Dabei fuhr sie nur leicht mit dem Finger über das Regal. Staub! Überall. Zum Glück trug sie Handschuhe. Sie hielt die Luft an, nur kurz. »Reden Sie nur weiter«, sagte sie, »Was sind denn Engelsessenzen?« Sie war endlich am Sessel angekommen und setzte sich, aber behielt Handschuhe, Mantel und Jacke an.
»Engelsessenzen sind in Alkohol oder Wasser gebannte Energien, die von Engeln stammen. Sie verbreiten positive Schwingungen, die auch den Raum reinigen. Es handelt sich hierbei sozusagen um metaphysische Raumsprays.«
»Metaphysische Raumsprays«, wiederholte sie ungläubig und dennoch gespannt. Sie setzte sich in den Sessel. Das Blut pochte ihr bis in den Hals. Sollte sie sich in Beck getäuscht haben. War er doch kein Mann, der schmutzige Dinge tat? Ein feinsinniges Wesen etwa, wie sie selbst? Wenn er auch nicht von dem Getrampel einer Mücke in Ohnmacht fiel und von dem Geruch faulender Blumen Konvulsionen bekam … »Wie kommen Sie zu solchen Engelsessenzen?« fragte Marina jetzt voller Neugier. Sie hatte ein starkes Kratzen im Hals.
»Nun«, erwiderte Beck, der immer noch im Türrahmen stand. Er zögerte etwas mit der Antwort. »Ich füll ein kleines Fläschchen mit reinem Alkohol ab und bitte dann den entsprechenden Engel, die Flüssigkeit zu energetisieren. Jeder Engel steht für eine besondere Eigenschaft. Der Flascheninhalt färbt sich daher immer unterschiedlich ein. Wenige Tropfen dieser Essenz werden dann in einem eigenen Fläschchen mit destilliertem Wasser vermischt, weil es weniger Informationen trägt als das Quellwasser. Die geballte Ladung der Originalflasche könnte man gar nicht aushalten. Die Mischung und Anzahl der Tropfen wird immer individuell abgestimmt. Danach wird das Fläschchen energetisch versiegelt, so dass keine Fremdeinwirkung hinzukommen kann.«
»Kann das jeder machen?«, fragte sie immer noch neugierig.
»Ich denke nicht.« Beck kratzte sich an der Glatze. Sein Gesicht wirkte teigig. »Man muss es in sich spüren. Man muss die Fähigkeit besitzen, sich mit den Engeln und anderen unsichtbaren Wesenheiten verbinden zu können.«
Marina hörte gespannt zu, wurde unruhig in ihrem Sessel. »Und was geschieht …«, begann sie die Frage, wusste aber nicht, wie sie sie formulieren sollte. »Mit Engeln kenn ich mich nicht besonders aus. Engel oder Lichtgestalten haben doch, soweit ich weiß, nicht nur gute, sondern auch schlechte Eigenschaften.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts besonders.« Sie begann zu stammeln. »Ich, ich will nur sagen, wenn ich mich hier umblicke, sehe ich auch Racheengel.« Sie schwieg eine Weile, bevor sie weiter sprach. »Und Racheengel haben doch auch böse Eigenschaften. Kommen auch diese Eigenschaften zum Tragen? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will sagen: Auch Luzifer ist doch ein Engel oder war ein Engel.«
Es wurde einige Sekunden vollkommen still. Marina hörte ihr Herz schlagen.
»Sie wollen also fragen«, durchbrach Beck die Stille, indem er genauso stammelte wie zuvor Marina, »ob ich auch Essenzen von Luzifer habe?«
Marina nickte.
»Keine Angst. Ganz sicher nicht! Bisher habe ich nur mit reinen Engeln zu tun gehabt, die ganz von Liebe durchzogen waren. Unreine Engel kann ich mir gar nicht vorstellen. Obwohl es sie sicherlich gibt.« Beck stockte. Er wurde unruhig. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob sie etwas trinken möchten? Ich mach mir einen Tee.«
»Nein, danke!« entgegnete sie. »Wasser wäre mir lieb.« Sie würde nicht lange bleiben. 

Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 


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