Mittwoch, 12. Oktober 2011

Schwanger

Es herrschte eine eiserne Stille, als sie zum kleinen mit Tüchern verhängten Fenster in die Küche ging, dessen hölzerner Rahmen zum Schutz vor Wind und Kälte notdürftig mit einer milchigen, aber lichtdurchlässigen Schweinsblase überspannt war. Eigentlich brauchte man das im Sommer nicht, zumal in diesem heißen Sommer kein einziger Windzug ging. Die Luft stand schon seit Tagen und fühlte sich klebrig an, zäh wie aufgeweichtes Brot. Aber die Blase bot nun einmal einen guten Schutz vor den unerwünschten Blicken der Nachbarn und anderer Leute, die in letzter Zeit immer häufiger ungebeten, weder rufend noch klopfend, und am helllichten Tag in den Garten eindrangen und in ihr Häuschen hineinzustarren versuchten. Manche wüteten in ihren Gartenbeeten, säten Unkraut und streuten Glas- und Tonscherben hinein, wenn sie nicht zuhause war. Einmal warfen sie sogar den großen Holzstoß hinter dem Haus um und verstreuten die Scheite in der Stadt. Ein anderes Mal hängten sie das Gartentor aus und warfen es in den Speyerbach. Wer das gewesen war, wusste sie nicht.
Junge Burschen vielleicht, die sie zu schikanieren suchten, weil sie als Frau alleine wohnte? Oder die Nachbarsweiber, die nach Pfingsten vor ihrer Haustür erschienen waren, aber nicht wohlwollend und freundlich, wie das sonst stets der Fall gewesen war, wenn sie eine auf der Gasse traf, sondern im Gegenteil in äußerst gereizter Stimmung. Sie benahmen sich so sonderbar, stürzten sich förmlich auf sie, stießen sie zurück ins Haus und hießen sie in der Küche niedersitzen. Ohne Zurückhaltung begannen sie alle Einzelheiten ihrer Kleidung oder ihres dicken Bauches zu begutachten und mit leiser Stimme Bemerkungen zu machen, die sie nicht verstand. Sie ließ sich mustern. Was hätte sie sonst tun sollen? Eine stieß mit dem Ellbogen nach ihrem Bauch und deutete an, dass ein Gespräch sehr hilfreich sein könne, während die anderen von so verschiedenartigen und abseitigen Dingen sprachen, dass sie anfangs gar nicht herausbekam, was sie eigentlich von ihr wollten. Bis sie endlich mit der Sprache herausrückten.
„Es geht die Rede, du seist in anderen Umständen“, sagte die Meierin, deren Garten hinten an den ihren grenzte. Es klang nicht nach einer Frage, sondern vielmehr nach einer Feststellung, die sie derart verlegen machte, dass sie keine zwei vernünftigen Worte zu entgegnen vermochte und dummes Zeug zusammenschwatzte, das dem unsinnigen und unverständlichen Geschwätz der Weiber in nichts nachstand.
Es stünde wunderlich an, erklärte sie ihnen und gehe ihr schlecht, weil ihr eine böse Versammlung des Blutes nicht jedoch eine Schwangerschaft vorliege.
Woraufhin es hieß, sie solle doch gestehen. Sie wäre ja nicht die erste und würde auch nicht die letzte sein.
Aber was hatte sie zu gestehen? Von was sollte sie schwanger sein? Vom Schnee? Vom fließenden Licht, das sie in ihren Träumen durchdrang? Vom Heiligen Geist? Wie die Jungfrau Maria.
„Heilige Jungfrau, bitte für mich!“ 

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