Freitag, 28. Oktober 2011

Opfer


»Wer einen Menschen tötet«, sagte der alte Mann, »der tötet einen Menschen. Doch wer sich selbst tötet, der tötet alle Menschen.« Der alte Mann beugte den Kopf und bedeckte müde seine Augen mit der Hand. Für eine lange Weile blieb er so stehen, und sie wagte nicht, ihn zu stören. Dann seufzte er und schüttelte sich, als wolle er eine große Müdigkeit abstreifen. »Und was den Selbstmörder angeht«, fuhr er fort und schenkte sich ein ganzes Glas Vodka nach, den er in einem Zug hinunterstürzte, »so löscht er die ganze Welt aus.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich wollte das nicht. Ich hatte ja jemanden zum Reden.« Dann nahm er die ganze Flasche und setzte sie an. »Der Vodka hört mir immer zu«, sagte er.
Sie wusste, dass er das manchmal brauchte, auf diese Weise ließ er die Toten hinter sich, die in Lidice in die frische schwarze Erde gesenkt worden waren.
»Warum«, fragte sie, während sie das Bettlaken glatt strich, »ist es für einen Überlebenden so entsetzlich, nicht angehört zu werden?«
»Ganz einfach«, antwortete der alte Mann. Er blickte sie an, und seine hohe Stirn verlieh ihm den Ausdruck von Nachdenklichkeit. »Als ich ein kleiner Junge war,« sagte er, »gab mein Vater jedes Mal, wenn er von seiner Arbeit im Stollen nach Hause kam, vor, mich nicht zu sehen. Für ihn war das eine Art Spiel, aber für mich eine Folter. Weil er sehr viel länger auf meiner Unsichtbarkeit beharrte, als ich es ertragen konnte. Nicht gesehen zu werden, bedeutete für mich, nicht zu existieren, ausgelöscht zu sein. Und dementsprechend bedeutet, nicht gehört zu werden, zu einem Opfer geworden sein, das für die anderen nicht existiert.« Er schlug die Augen nieder und versank in finsterem Schweigen.

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