Dienstag, 18. Oktober 2011

Wäschelektüre


Die kleine Maria setzte diese Art der Lektüre in der alltäglichen Schmutzwäsche ihrer Auftraggeber fort. Der Klatsch der alten Waschweiber half ihr dabei. Als wahre Romane erwiesen sich die leinenen Laken, in denen sich Nacht für Nacht die feinen Bürgersleute wälzten und so ganz nebenbei , ohne es zu wollen,  geheime Zeichen hinterließen. Wie in einem Buch vergrub sie sich  darin, trug die unterschiedlichsten Flecken und Spritzer zusammen und erschloss sich aus ihren Farben und Formen ein Geflecht aus ebenso geheimen Verbindungen: Aus den Flecken buchstabierte sie bald Worte, mit den Worten bildete sie Sätze, aus den Sätzen Geschichten und aus den Geschichten schließlich die wahrhaftige Chronik der Stadt. Am verräterischsten war die Leibwäsche.  Diese  trächtige Tracht, die eigentlich als Schirm der Nacktheit gedacht war, enthüllte in Wahrheit das unverstellten Wesen ihrer Besitzer. Denn die Spuren des Lebens waren hier besonders dicht gedrängt.
Während sie in der Wäsche las, erspürte sie die reifenden, platzenden Leiber, sah den milchigen Sieg des Verführers und das feuchtwarme Blut seines heimlichen Duells. – Ein wahrer Blutregen ging im heißen Mai auf die Bettlaken des Städtchens nieder. – Maria bemerkte oft wie das monatliche Blut ausblieb und erkannte wenig später die ranzig geronnene Milch. Sie roch den Ziegengestank einsamer Achselhöhlen, den Schweiß der Qual, der Angst und des Fiebers. Sie folgte dem Sog der Gerüche und erkannte die Vorzeichen des körperlichen Verfalls. 

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