Mittwoch, 5. Oktober 2011

Abschiedsbrief


»Hat er denn einen Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches hinterlassen?« Beck fragte bei Selbstmorden eigentlich schon lange nicht mehr danach. Man sollte meinen, nichts käme der Wahrheit über einen Selbstmord und einen Selbstmörder näher als die Briefe und Nachrichten, welche dieser hinterlassen hatte, nicht aber Beck. Die Vorstellungen, die man sich davon machte, wie sich der Selbstmörder im Angesicht des Todes fühlen musste und wie er handelte, gingen weit über das hinaus, was er im Moment der Entleibung wirklich getan hatte. Das wusste Beck. Das hatte er jedes Mal erfahren. Die verbreitete Hoffnung, dass die Aufzeichnungen aus den letzten Augenblicken eines Lebens eine tiefe oder gar tragische Sicht böten, teilte er angesichts der so oft, ja fast immer enttäuschten Banalität dieser letzten Mitteilungen nicht. Die meisten Menschen, die sich entschlossen hatten, ihrem Leben ein Ende zu setzten, hatten die Fähigkeit verloren, die Dinge tief oder groß zu empfinden, originelle Überlegungen anzustellen oder die Welt anders als grau in grau zu sehen. Die inneren Vorgänge in Worte zu fassen, war ja schon für tatkräftige und willensstarke Geister schwierig genug. Wie also sollten Menschen, die deprimiert, verwirrt und hoffnungslos waren, die unter Zwängen litten, beredsam sein? Abschiedsbriefe waren für Beck nichts anderes als Postkarten, die man von einer Reise in die Alpen, zu den Katakomben in Rom oder den Pyramiden nach Hause schickte. Man tat es eigentlich nur pro forma, ohne die Großartigkeit der Szenerie oder die Tiefe der Gefühle, die man in solchen Momenten, in solchen Situationen am Werk vermuten könnte, wiederzugeben.

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