Freitag, 23. September 2011

Lippenstift


.... ›Einen Chardonnay, bitte‹, gab sie zur Antwort und platzierte sich so, dass mein Blick fast jedes Mal auf ihr Gesicht fallen musste, wenn ich ihn von meiner Tresenarbeit erhob. Dieses wunderbare Gesicht. Die unterhaltsamste Landschaft auf Erden. Jedes Mal, wenn ich aufblickte, war es anders. Wie die See am Kiel eines Schiffes beständig ihre Farbe verändert von tanggrün zu glasblau, von feuerrot zu silbergrau, so veränderte sich sein Ausdruck: mal war es listig und lasterhaft, mal keusch und unschuldig, dann wieder zeigte es die stumpfen Züge einer Greisin, gleich darauf die eines sorglos lächelnden Mädchens oder einer still vor sich hin lachenden Irren, um schließlich in der Miene einer verzückten schönen Heiligen zu erstarren, vor deren entrücktem Antlitz die Pforten des Paradieses aufspringen.«
Er verstummte und stellte das Weinglas mit dem Lippenstift, das er die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte, vorsichtig und nur kurz auf den Boden, um an seinem Rotwein zu nippen.
»Ja, ja«, fuhr er besonnen fort und strich sich über den Kopf. »Ein Mann macht sich nach seinem Standpunkt in der Welt, weil er das ganze Gesicht einer Frau nicht fassen kann, einen Auszug daraus, der dann das Merkwürdigste enthalten kann. Und eine Frau? - Eine Frau gerät - ist ein Mann in der Nähe - stets in Zugzwang und muss diesen von ihrer Unschuld oder was auch immer überzeugen. Weshalb sie das, was an ihr gesucht wird – an diesem Abend also die entrückte, reine Schönheit –, sichtbar macht, um nicht einer Missdeutung anheimzufallen.« Der alte Kellern wirkte seltsam erregt und seine Erregung steigerte sich von Wort zu Wort. »Ich brachte ihr den Wein. Mit leicht geöffneten Lippen nippte sie daran. Es war der Moment, wo sich die Nähe zu ihr in fast körperlichem Schmerz ausdrückte. Die dunkelrote Farbe ihres Konturenstifts, mit dem sie ihre ganze Tatkraft auf dem Mund eingezäunt hatte, begann sich abzufärben und zeichnete sich jetzt, zwar noch fein und fast unsichtbar, auf dem Glas ab.«
Unruhig bewegte er sich in seinem Sessel hin und her, bis er schließlich aufstand, um uns nachzuschenken.
»Und dann?« fragte ich neugierig. Er hatte alles ganz so erzählt, als ob er die Welt gerade im Moment des Erlebens erfasse, als ob der Wolf am Tag ein anderer sei als derselbe bei Nacht, oder die Morgensonne eine andere als die Abendsonne. Die Eigenschaften, die Raum und Zeit den Dingen verleihen, schien er nicht berücksichtigen zu wollen. 

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