Sonntag, 4. September 2011

Gerechte Welt


Er streifte sie mit einem höhnischen Blick. »Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass wir in einer gerechten Welt leben, in der uns nichts Schreckliches passieren kann, das wir nicht verdient haben? Das glaubst du doch nicht wirklich? – Oder?« 
Sie stand immer noch vor ihm, sonnenverbrannt, mit feinem Flaum, an Armen und Beinen, wie eine goldene Biene. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie bemühte sich, einen Halm mit den bloßen Zehen zu fassen. 
»Nein«, entgegnete sie nach einer Weile, »genauso wenig wie du.« Sie lachte beinahe zärtlich, stockte und fuhr dann in wiederum ernstem Ton fort: »Aber das ist keine Frage des Glaubens.« Ihr Mundwinkel zuckte, und für einen Moment kam es ihm vor, als wollte sie ihn küssen. »Es ist Notwehr. Ich und du, wir alle werden wider besseren Wissens von dem Bedürfnis überwältigt, für unsere Erlebnisse und Erfahrungen sinnvolle Erklärungen zu finden, unser grundloses Pech inbegriffen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und neigte den Kopf leicht zur Seite, als ob sie ihren Blick schärfen wollte. »Aber sieh es doch einmal von der anderen Seiten: Sagst du nicht ständig, dass du nur wegen deiner Leistungen Chefarzt geworden bist? Das sagst du doch? – Oder? - Aber woher willst Du das wissen? Warum ist Arne kein Chefarzt geworden? Sein Examen war viel besser als deins. Er arbeitet auch mehr!« Sie verzog ihre Mund zu einem kleinen spöttischen Lächeln. »Du siehst, es ist genau das Gleiche in Grün. Jetzt kann ich dich fragen: Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass wir in einer gerechten Welt leben, in der das passiert, was wir verdient haben?«

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen