Dienstag, 20. September 2011

Zum Ratzverschreck


Berta kannte sich mit Ratten und überhaupt mit allem Ungeziefer aus, das aus dem Unrat entstanden war. Das stellte sie immer wieder unter Beweis. Ratten waren giftig. Sie bewirkten Eitergeschwüre und Furunkel bei denjenigen, die sie gewollt oder ungewollt berührten, besonders am Schwanz oder wenn sie tot waren. Berta hatte noch niemals Geschwüre bekommen, wenn sie es mit einer toten Ratte zu tun gehabt hatte. Mit dem Schürhaken bewaffnet trat sie an den Kadaver heran, um ihn mit einem Stock oder Besen auf eine Schaufel zu befördern und anschließend auf dem Komposthaufen zu verbrennen. Zur Abschreckung und zum Beispiel einer jeden. Zumindest sagte sie das oder Anna glaubte es aus der sehr schnell ausgesprochenen und heruntergeleierten Wendung »Zumratzverschreck« - nur einer ihrer vielen eigentümlichen Ausdrücke -  herauszuhören.
Einmal hatte Anna sogar erleben dürfen, wie diese kleine kräftige Frau mit den abfallenden Schultern einer gefangene Ratte eine Glocke um den Hals gehängt und mit feuerrotem Kopf keuchend über die Felder gejagt hatte. Danach war auf dem Kronenhof monatelang kein einziger Nager mehr zu sehen gewesen.
Ja, Berta kannte sich mit solcherlei Ungeziefer wirklich aus! Mehrmals am Tage belauerte sie das Treiben im Schweinestall, besonders um die alten Holztröge herum, denn, wenn auch nur eine Ratte ihren giftigen Schwanz dort hineinhängen ließ, gedieh das gesamte Borstenvieh nicht. Aber wehe, sie erwischte eine dabei, was schon einige Male vorgekommen war, dann stürzte sie sich aus voller Kehle eher krächzend als brüllend mit der Mistgabel darauf. Doch damit nicht genug: Wenn sie unter den Schweinen oder vor dem Stall auch nur den Schatten einer Ratte wahrnahm oder wahrzunehmen glaubte, schrieb sei ein kleines Gebet oder ein paar Buchstaben auf einen Papierfetzen oder ein altes linnenes Tuch und schob es an einem Sonntag unter das Altartuch, damit Pfarrer Solinander die Messe darauf las. Dann war wirklich nichts mehr zu befürchten. Berta wusste aber auch, dass nicht nur die Ratten selbst, sondern auch die von ihnen berührten Gegenstände Verderben über Mensch und Vieh bringen konnten, selbst wenn sie nur beschnuppert worden waren. Daher bereitete sie die Mahlzeiten niemals aus Viktualien, woran eine Ratte genagt haben könnte. Denn hätte man davon gegessen, wären einem die Zähne ausgefallen. Doch das war Gott sei Dank, und trotz der gegenwärtigen Rattenplage, bisher noch keinem in ihrem Haushalt widerfahren. - Hans, der Knecht hatte zwar eine große Zahnlücke, ihm war der rechte Eckzahn vor nicht allzu langer Zeit ausgefallen, doch das hatte ganz sicher nicht an Bertas unterlassener Sorgfalt  gelegen. Denn Hans kaute nur so als Zeitvertreib gerne auf hartem Leder.

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