Montag, 12. September 2011

Misstrauen


Der alte Mann schwitzte in Strömen. »Im Dunkel«, sagte er, „dort, wo man es nicht sehen kann, und hinter den Sträuchern lauert es.« Er hielt das Taschentuch in der Hand und trocknete sich die Stirn, den Hals und die aufgeschwemmten Wangen. »Man fragt sich, was es ist, was da lauert.« Er schaute ins Leere, den Mund voll Speichel, als versuche er, sich daran zu erinnern, wer er war und wo er sich befand. »Es ist etwas ganz Unbestimmtes«, sagte er. »Es ist das Lauern selber. Die Zwischenräume zwischen dem Sichtbaren und das Dahinter, all dieses Ungreifbare ist mir nicht mehr geheuer.« Plötzlich erhob er sich von seinem Sessel, furchtbar bleich, ging zum Fenster und blickte hinaus.
Sie sah, dass seine kleinen Augen unruhig flatterten.
»Der Hintergrund selbst, von dem sich die greifbaren Dinge abheben«, sagte er, während er mit den Fingern auf die Fensterbank trommelte, »hat seine Unbefangenheit verloren. Nicht der Baum oder der Strauch, den ich sehe, das Rauschen der Wipfel oder das Schreien des Kauzes, das ich höre, ist es, was mich beben macht, sondern alles Hintergründige, der ganze Unraum, aus dem der Baum und Strauch, das Rauschen und Krächzen sich herausheben, eben das Dunkel und der Hintergrund selbst.«
Während der ganzen Zeit, in der er sprach, unterbrach ihn Mathilde nicht ein einziges Mal. Sie hörte ihm zu. Weder nickte sie, noch schüttelte sie den Kopf, ihre Augen, die sie starr auf ihn gerichtet hielt, irrten zuweilen ab. Sie fragte sich, ob die Krisen seiner geistigen Umnachtung mit solchen Reden begannen?
Er machte eine Pause und drehte sich um, inspizierte seine Zimmer. Sein Hemd war halb herausgerutscht und sein Haar zerzaust. »Genauso ist es mit dem Misstrauen«, fuhr er nach einer Weile fort, heftete den Blick auf sie und streckte das Kinn so weit zu ihr hin, dass sie seine nächsten Worte auf ihrem Gesicht spüren konnte. »Nicht das, was die Menschen tun oder sagen, macht mich misstrauisch, sondern das, was sie nicht sagen und was sie nur heimlich hinter meinem Rücken tun, was sie beabsichtigen zu tun, was sie im Schilde führen, was sie untereinander besprechen, während ich nicht dabei bin.« Er ließ sein Kinn auf die Brust sinken und setzte sich wieder. »Ja, das, was sie nicht sagen«, wiederholte er schläfrig und schloss die Augen, »das macht mich misstrauisch.« 

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