Mittwoch, 28. September 2011

Am Strang

„Sehen Sie! Beim Erhängen kann Ihnen das nicht passieren. Das ist ein sauberer Tod!“ Der Metzger blickte in Becks bleiches Gesicht. „Ok“, räumte er ein, „die Zunge hängt manchmal ein bisschen komisch rum. Aber letztendlich ist es doch für beide eine feine Sache! - Oder?“
„Ich verstehe Sie nicht?“, fragte Beck ein wenig verstört.
„Na, ja! Beim Erhängen, hab‘ ich mir sagen lassen, rast das Leben an einem vorbei und man durchlebt die schönsten Erlebnisse alle noch einmal. Die wunderlichsten Bilder und Gestalten tanzen und flirren einem dann vor den Augen.“ Daniel schwieg und starrte ins Leere. „Aber für mich“, fuhr er fort und stieß den Atem aus, „ist das nichts! Ich würd‘ mich von einem der beiden Hochhäuser am Bonifaziusplatz stürzen.“ Er zeigte nach draußen. „Das ist aber auch ekelhaft. Man müsste mich ja dann wie Matsch vom Boden abkratzen!“ Daniel schien nachzudenken. „Nein, das ist auch nichts! – Die Golden Gate Bridge.“ Sein trüber Blick begann zu leuchten. „Das wär’s! Der anmutige Bau, der die Bucht von San Francisco, eine der schönsten Gegenden der Welt überspannt... Der Sprung ist todsicher. – Entweder die Golden Gate Bridge, oder gar nichts!“ Er griff wieder nach dem Beil und betrachtetet es. „Sie hat Klasse, etwas Graziöses und Wunderschönes.“ Er holte weit aus. „Der Sprung von der Brücke, ein Sturz von achtzig Metern in die Tiefe, ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit tödlich. Es heißt, man stirbt mitten in der Luft, bevor man auf dem Wasser aufschlägt.“ Das Beil sauste nieder, klatschte auf das Fleisch und zerteilte es in zwei Hälfte. „Der Aufprall auf dem Wasser ist so hart, dass die Blutgefäße reißen, das Nervensystem gestört wird und die Wirbelsäule bricht.“ Er umfasste Beck mit seinen Blicken. „Durch den Aufschlag aufs Wasser platzen die inneren Organe regelrecht auseinander.“ Er lächelte, während er mit dem Beil erneut ausholte und zuschlug. Das Fleisch schmatzte. „Und das Wasser“, ergänzte er, „schwemmt es weg. – Wenn Sie dann aber immer noch leben, sind Sie garantiert nur noch Gemüse und Ihre Wahrnehmung ist die eines Kohlkopfs.“
Wie ein Stück Holz stand Beck vor der Fleischtheke und wusste nicht mehr, was er fragen, was er sagen sollte. Alle Fragerei hatte doch kein Zweck. Stefan war ein netter Kerl gewesen. Das war alles, was er erfahren hatte. Spärlich war es. Ja! Aber mehr würde er von diesem eigenartigen, groben Klotz heute doch nicht mehr erfahren. So sanft und bewusst wie dieser mit dem Fleisch umging, so unsanft und scheinbar unbewusst gebrauchte er seine Worte. Er wand sich. Es war kein geschicktes Ausweichmanöver, das dieser Mensch betrieb. Durchsichtig und geradezu plump war es. So plump und durchsichtig, dass es durchaus eine Bedeutung haben konnte. Eine Bedeutung, die er, Beck, nicht verstand. Zumindest noch nicht. 


aus: © Neumann, Hubert: Lusthängen. Remscheid 2007.
Bestellung signierter Exemplare unter dem Reiter "Kontakt". 

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