Donnerstag, 8. September 2011

Empör dich!


Endlich saß sie mit ihm in diesem Selbstbedienungsrestaurant, in das sie immer noch so gerne ging, zwei Mal die Woche sogar, wenn es ihre Zeit zuließ. Es war nicht einfach gewesen, sie hatte lange auf ihn einreden müssen, bis er schließlich eingewilligt hatte, widerstrebend zwar, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Er betrachtete alles ganz genau: die Tische und Stühle, die trotz des Furniers immer noch nach Plastik aussahen, die lindgrünen Wände, die Theke, aber auch die Menschen, die dahinter arbeiteten. Besonders interessierten ihn die albernen Papierhauben, die jeder auf dem Kopf trug.
„Und die arbeiten wirklich alle für einen Hungerlohn“, fragte er ungläubig.
Sie nickte.
„Und es ist überall gleich? Auf der ganzen Welt?“
Sie nickte wieder.
Der alte Mann stierte auf sein Tablett, steckte eine Pommes in den Mund und sagte halb ehrfurchtsvoll, halb ironisch schließlich: „Man spürt das Älterwerden nicht, wenn sich um einen herum scheinbar alles ändert. Diese schrecklichen Innovationen, wie man heute dazu sagt. Was ist das nur für eine Welt, in der das Geld regiert und die Menschen nicht so viel Ehrbarkeit haben als eine Mücke auf dem Schwanz wegführen mag!“ Mit einem abrupten, heftigen Seufzer schlug er die Augen auf und sah sie an. Sie empfand den Blick wie einen heftigen Schlag, der sie auf ihrem Stuhl unwillkürlich zurückweichen ließ, als mache er sie für all das hier verantwortlich. „Was ist das für ein kümmerliches Leben, das mit Büroklammern zusammengeheftet wird?“ Er bemühte sich, freundlich zu sein, runzelte aber sorgenvoll die Stirn. „Sie glauben doch auch an diesen Dieter Bohlen und diese unseligen Castingshows? Oder nicht?“, fragte er endlich mit jenem unfeinen hämischen Lächeln, in dem zuweilen das Vergnügen des Menschen am Missgeschick des Nächsten so ungeniert zum Ausdruck kommt. Sein Blick durchbohrte sie. Niemals hatte sie bei ihm einen solchen Ausdruck von Härte bemerkt; seine Nasenflügel bebten. Sie wusste nicht gleich, was er meinte. Ihre vielen Dates, die über das Internet zustande kamen? Ihre Auswahlkriterien?
Als sie im wahrsten Sinne des Wortes in sich hineinhörte, war da nichts außer einem Kreischen, einem fortwährenden Kreischen, das kein Ende zu finden schien. Wann es begonnen hatte, wusste sie nicht. Vielleicht, als sie von der Toilette gekommen war, oder als sie mit ihm vor der Theke gestanden hatte, um dieses widerliche Stück Fleisch zwischen den beiden feuchten Getreidelappen zu bestellen, das er auch ohne Gebiss hinunter bekommen hätte. Sie hätte ihm nicht sagen können, ob das Gekreische eher dem grellen Geräusch einer Kreissäge ähnelte, die Baumstämme zersägt, oder einer S-Bahn auf ausgefahrenen Schiene, die sich zu schnell in die Kurve legt, hätte er sie danach gefragt. Sie hätte ihr lediglich sagen können, dass es in ihr drin war, in ihrem Kopf, und dass es weniger ein Geräusch als so etwas wie eine Mauer war, die ihr Denken begrenzte. Jedenfalls kam es ihr so vor. Sie dachte an eine Mauer aus Kaugummi, nicht aus Stein, aus unzähligen winzigen, noch warmen Kaugummiquadern von zwar biegsam-weicher, aber in sich fester, kaum dehnbarer Konsistenz, die man mit einer feinen Nadel nicht mehr hätte durchstechen können, wenn es die Möglichkeit dazu geben hätte. Hätte man die Möglichkeit aber gehabt, das wusste sie, dann hätte sie eine offene Weite gespürt, die ihr im Laufe der Jahre verloren gegangen war; es war das Gefühl in einer Glückbärchenwelt zu leben, in der die Menschen stets gut zueinander sind.
„Mathilda!“, sagte er, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. „Mathilda!“ Er durfte sie jetzt Mathilda nennen.
Sie fuhr sich mit dem kleinen Finger in den Augenwinkel, als müsste sie einen Fremdkörper entfernen. „Ja“, entgegnete sie ein wenig gereizt. „Was soll diese Frage?“ Die Laute taumelten aus ihrem Mund. „Meine Zeit ist mir zu schade, um mit derartigen Fragen vertan zu werden.“ Sie stand auf, sie wusste nicht genau, was sie tat, und fegte mit einer einfachen flachen Handbewegung ihr Tablett vom Tisch. Dann kamen die Schreie, lange aufgestaute Schreie, wie ein Gewitter, und das Kreischen hörte auf. „Endlich“, sagte sie nach einer Weile, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Endlich!“ 

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