Dienstag, 6. September 2011

Dort, wo du bist...


Er zog sie hinter sich her, nachdem er mit kaum hörbarer Stimme gesagt hatte, dass er sie begehre. Naja, er hatte es anders ausgedrückt. Dass er, geil auf sie sei, hatte er gesagt. Aber das war doch das Gleiche? Seine Finger gruben sich in ihre Schulter, während er den schweren violetten Vorhang zur Seite schob, der sie an ein Theater erinnerte. Was sie wohl auf der Bühne erwartete?
Draußen war es kalt. Sie fror in ihrer dünnen Bluse. Daher machte es ihr nichts aus, als er sie mit seinem ganzen Gewicht an die Hauswand drückte. Es tat etwas weh, aber seine warmen Hände auf ihren Brüsten ließen den Schmerz schnell vergessen.
»Zieh deinen Schlüpfer aus«, sagte er, während seine sanften Fingerkuppen hektisch ihre Schenkel nach oben strichen. »Mach schon!«


Sie versteifte sich in seinen Armen, schloss die Augen, um diesen Mann, diesen Atem und diese Worte zu vergessen. Sie zwang sich, nicht zu fliehen. Dass es ihr gelang, sich zu bezwingen, in seiner Umklammerung zu verharren, ohne sich ihm rückhaltlos hinzugeben, erfüllte sie mit einem kleinen Triumph. Sie hoffte, ihn so quälen zu können, wie er sie quälte. Seitdem er sie mit den Worten »Ich liebe dich nicht, mein Schatz«, abserviert hatte, nachdem sie mit ihm im Bett gewesen war, hatte er immer wieder neue Scheußlichkeiten ersonnen, um ihre Leidenschaft von neuem zu entfachen, hatte immer wieder sein Verhalten zu ihr geändert: Wie oft hatte er sie ignorierte? Ihr  dann aber plötzlich wieder alle Beachtung der Welt geschenkt, hatte getan, als fände er Gefallen an ihr. Wie oft hatte er sie geschnitten, nachts im Club und auf der Straße? Ihr dann aber wieder, einfach so im Vorbeigehen, mit seiner lächelnden Miene Dinge mitgeteilt, die sie in eine fast irrsinnige Erregung versetzten. Und jetzt wollte er sie einfach so nehmen wie einen Atemzug!
»Was ist denn?«, fragte er, während er seine Arme sinken ließ.
Sie antwortete nicht und löste sich langsam von ihm, sehr langsam, damit er an der allzu raschen Bewegung nicht merkte, wie sehr ihre Verweigerung gespielt gewesen war. Dann sagte sie, nur um ihn noch weiter zu quälen, die beiden Sätze, die sie wenig später schon bereuen würde: »Wenn ich dich sehe, werde ich die Straßenseite wechseln. Dort, wo Du bist, will ich nicht sein.«

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