Freitag, 18. November 2011

Erlösung


Sie hatte bloß darauf gewartet. Als sie die Wohnungstür aufschloss, wusste sie, dass es jetzt geschehen würde. Vielleicht war es sein unbekümmertes Lächeln, die entspannte Haltung seiner Hand. Sie warf einen Blick auf die Garderobe und ging, ohne den Mantel abzulegen, langsam auf ihn zu. Sie sagte nichts. So stand sie da, während das Sonnenlicht durch das Fenster drang und sich auf ihrem versteinerten Gesicht zu sammeln schien.
„Na, du bist ja schon da“, sagte er.
Sie sagte immer noch nichts und ging die Stufen nach oben zum großen Kleiderschrank, um ihren Koffer zu holen. Sie ging langsam Schritt für Schritt. Sie hatte es jetzt nicht mehr eilig. Ungefähr auf halber Höhe hielt sie inne, vielleicht eins, zwei Minuten lang, als hätte jemand ihre Schritte eingefroren. Dann drehte sie sich um. Wie ein Schatten stand sie auf der Treppe und ließ ihre kleinen, harten Augen, die nirgendwo hinblickten, über das Geländer schweifen. Jetzt würde sie ihn wieder fragen, ob er eine andere hätte. Sie suchte nach Worten, überlegte hin und her; und alle die sich ihr auf die Lippen drängten, kamen ihr missverständlich, ja doppelsinnig vor, zu verfänglich, geeignet, um zahllose Möglichkeiten zu befruchten, gerade wie hunderte von Wurzeln aus unbekannten Samen sich entwickeln. Er würde sich wieder aus diesem Wurzelwerk herauswinden.
„Nein“, würde er sagen. „Wo denkst du hin!“ Oder: „Du bist so schrecklich eifersüchtig!“ Oder etwas ganz anderes.
Sie setzte sich auf die Stufen, wie in Zeitlupe, die Arme gestreckt und aufgestützt, nicht um weiter nach Worten zu suchen, nicht um sich Zeit für ihre Rede zu nehmen, sondern um die Bedeutung des Moments zu unterstreichen. Sie saß zu Gericht.
„Ich vertraue dir nicht mehr“, sagte sie und blickte ihm ernst ins Gesicht. „Es ist mir gleich, ob du eine andere hast oder nicht. Ich vertraue dir nicht mehr.“
Sie stand auf, drehte sich um und setzte ihren Weg mit wässrigen Augen fort, ohne auf eine Entgegnung zu warten. „Sich durch die Liebe erlösen zu wollen“, sagte sie noch, mehr zu sich selbst als zu ihm, „oder durch die Liebe erlösen zu wollen, ist einer der fatalen Irrtümer der Menschheit.“ 

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