Freitag, 4. November 2011

Wahrheit

Eine Reminiszenz an Marc Bloch
Im düsteren Treppenhaus blieben sie stehen. Sie roch die scharfen Küchengerüche. Irgendwo weinte ein Baby. Der alte Mann nahm seinen Hut und legte ihn auf einen wurmstichigen Tisch, der direkt am Eingang stand, ganz vorsichtig, als sei es ein bedeutsames Ritual. Dann senkte er den Blick. Ein Schabe kroch unter der Fußleiste hervor und huschte im Zickzack über eine Treppenstufe.
»Das ist meine kleine, nicht immer ganz saubere, nicht immer von den edelsten Leidenschaften beseelte, alles in allem doch ziemlich erbärmliche Welt«, sagte er, während er sich am Geländer festklammerte. »Mein ganzes Leben lang habe ich nach Aufrichtigkeit im Ausdruck wie im Denken gestrebt.« Seine Stimme klang schleppend. Es war, als müsste seine Zunge beim Sprechen kleine Steinchen aus der Tiefe seines Körpers holen. »Und was hat es genutzt?« Er machte eine beschwichtigende Handbewegung, lächelnd. »Nichts.« Er war drauf und dran, wieder umzukehren, schüttelte dann aber den Kopf und stieg die Treppe hinauf. »Trotzdem aber halte ich Duldsamkeit gegenüber der Unwahrheit, unter welchem Vorwand auch immer sie geübt werden mag, immer noch für die schlimmste Seuche des Geistes.« Er streckte einen Moment lang die Arme aus, als suche er festen Halt, als segne er die Erde oder wolle die Welt in ihrer Unrast bremsen. »Wie ein Größerer als ich«, sagte er, »wünsche ich mir, dass Sie auf meinen Grabstein die schlichten Worte ›Dilexit veritatem‹ setzen.«

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