Donnerstag, 3. November 2011

Normalität


Als sie sein Zimmer betrat, stieg ihr ein säuerlicher, stechender Geruch, wie von sehr reifen Früchten, in die Nase. Der alte Mann saß im braunen Ledersessel vor dem Fenster. Es sah aus, als starrte er auf den Boden. Während sie näher kam, blickte er auf und sah sie unverwandt an. Dann zeigte er auf den großen Fleck auf der Hose zwischen seinen Beinen. »Es ist einfach so gekommen«, sagte er. »Ich hab’s nicht gemerkt.«
Der alte Mann war von einem auf den anderen Moment geschrumpft. So kam es ihr jedenfalls vor. Er wirkte wie ein kleiner Junge, den sie an die Hand nehmen und durch die Welt führen wollte, obwohl er die Welt – weiß Gott – besser kannte als sie.
Als sie ihm die Hose öffnete, lachte er. Es klang verbittert. »Früher«, sagte er, »ja früher war das ein heiliger Moment, in dem sich meine Zukunft immer wieder aufs Neue entscheiden konnte.« Sie verstand zunächst nicht, was er damit meinte, doch dann ergänzte er: »Sie müssen wissen, ich war früher ein richtiger Casanova. In jedem Hafen eine Braut.« Er blickte sie an, als ob er ihr gleich einen Antrag machen wollte und sagte: »Aber keine Ehefrau.« Sie sah, wie ein Zucken über sein Gesicht ging. »Vielleicht ist Einsamkeit der Preis für über hundert Frauen im Bett?« Seine Stimme schien von einem unbestimmten Ort in ihr Bewusstsein zu dringen. Sie dachte an ihre vielen Männer.
Während sie ihm die Hose über die Beine streifte, war er in einem seltsam abwesenden Zustand, als ginge ihn das, was hier geschah eigentlich nichts an. Er lächelte unsicher, ein halbes Lächeln, und zeigte auf die Lache von Urin, die sich auf dem Boden gebildet hatte. »Es wird alles viel zu schnell zur Normalität«, sagte er in einem Ton, als ob er mit diesen Worten etwas ganz anders ausdrücken wollte, als auf seine Inkontinenz hinzuweisen, und dann schließlich doch: »Selbst das Leben.«
Die Tränen rannen über ihre Wangen; sie waren heiß, sie brannte sich in ihre Haut. »Aber doch nicht das Leben«, sagte sie. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Heulen. Sie erkannte sich selbst kaum wieder.

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