Mittwoch, 23. November 2011

Parasit


Aber nicht nur ihr Körper hatte sich verändert, - an Bauch und Busen hatte sie zugenommen - sondern auch der Umgang mit ihm, mit ihrer Nacktheit und ihrer körperlichen Ungezwungenheit: Sie zeigte sich kaum mehr auf der Straße, und wenn, dann bedeckte sie sich sorgfältig, ja schirmte sich selbst gegenüber den Blicken nächster Verwandter ab und wandte im gemeinsamen Bett der Schwester den Rücken zu. War das die Liebe, von der alle sprachen?
© Nicola Goedecker
Auch im Inneren hatte sich etwas verändert, tief in ihr drin. Aus ihrer Brust stieg etwas zur Kehle hoch, sie hatte das Verlangen, wild, mit fremder Stimme aufzuschreien. War das auch die Liebe? Diese Frage plagte sie seit einigen Tage und ließ ihr keine Ruhe. Seit jenem unvergesslichen Samstag, als sie mit Friedhelm im Stroh gewesen war, hatte sie recht oft ein ähnliches Gefühl, sie spürte etwas Ungekanntes in sich. Wenn sie beten wollte, vermochte sie es nicht: irgendeine Kraft schnürte ihr die Kehle zu und wollte die Brust mit irrsinnigem Geschrei zerreißen. Zuweilen kam sie sich so leicht vor wie eine Feder, so leicht geworden, als könne sie sich alsbald erheben, davon fliegen und Unheil anrichten.
Ob es wirklich wahr war, was der Herr Geheimrat jeden Sonntag zu seinen Gästen am Mittagstisch sagte, dass der Mensch dem Menschen ein Schmarotzer war? - Ein Parasit, wie er es  sehr zum Ärgernis seiner Gattin auszudrücken pflegte? Wenn es wirklich wahr war, was würde dann jetzt Friedhelm spüren?

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