Mittwoch, 16. November 2011

Kartographie des Schmerzes

»Mit gekreuzten Armen stand Ackermann da. Inmitten all der triumphierenden Gesichter von Professoren und Studenten, in diesem Wirbel von Händeklatschen und Getrampel und Hohngeschrei, in dieser narrenhaften Raserei, deren Mittelpunkt er war, in dieser losgelassenen Schadenfreude – war in ihm Grabesdüsternis. Er war gescheitert. Es war aus. Er konnte weder sein Gesicht im Zaum halten, noch seine Zuhörer, die ihn mit Beleidigungen überschütteten. Er erlebte es, dass seine Bestimmung an einem tollen Ausbruch von Lachen zerbrach. Nur weil er behauptet hatte, das Leben beruhe lediglich auf einem körperlichen, einem materiellen Prinzip. Das war nicht wieder gut zu machen.
Wer gefallen ist, steht wieder auf, aber wer, wie er, zu Staub zermalmt wird, erhebt sich nicht mehr. Das jedenfalls dachte er damals, dachten alle, nachdem man ihn aller akademischer Würden beraubt und aus der wissenschaftlichen Societät ausgeschlossen hatte, – ihn, den großen Ackermann, ein gern gesehener Gast an allen deutschen Höfen, zumindest bevor er diese grandiose Rede, - wie er noch heute fand -  vor der wissenschaftlichen Gemeinde in Berlin gehalten hatte. Zum Glück hatte er nicht aufgegeben.
Er konnte sich noch gut an diesen Frühling anno 1756 erinnern. Es war frühsommerlich warm gewesen, und dieses Nichtstun nach der Suspendierung, von dem er nicht mehr hatte lassen können, hatte ihm gut getan.  Er blühte wieder auf, gewann seine alte Stärke zurück. Gleichzeitig wurde er den Gedanken aber nicht mehr los, dass etwas in ihm schlummerte, dass sich etwas sammelte, das irgendwann hervorbrechen würde. Er dachte oft über die Demütigungen nach, die man ihm zugefügt hatte, aber vor allem an den Schmerz, der langsam abnahm, als sich in ihm die Idee zu einer topographischen Darstellung desselben verfestigte.
In grausamen Versuchen, ja grausam – wie er sich jetzt selbst eingestand – durchleuchtete er daher anstelle von lebenden Menschen systematisch Hasen, Hamster, Mäuse und Ratten, sogar Hunde und Katzen - wenn er sich recht entsann, waren es über die Jahre hunderte von lebenden Tierkörper jeder Art gewesen –, indem er ihre Körperteile, von der Haut über die verschiedenen Organe bis hin zum Knochenmark, mit einem speziellen Skalpell freilegte und dann reizte: mit Nadeln, Zangen, Messern, mit Schwefelsäure, Vitrioöl und Spiegelglasbutter. Was er so ans Licht brachte, war eine imposante Landkarte des Schmerzes, eine Klassifizierung der Gewebe nach dem Maß des Zuckens und Schreiens der ihm ausgelieferten Kreaturen. Die methodischen Einwände seiner Gegenspieler, dass ein Tier mit geöffnetem Brustkorb vom Schmerz so gelähmt sei, dass es auf Reizungen der Herzwand nicht mehr reagieren könne, schob er zur Seite. Er wollte endlich beweisen, dass es kein unkörperliches Prinzip brauche, um das Leben zu erklären, keine Seele, die die Organe in ihrer Bewegung anleite.
Dabei hatte er völlig vergessen, dass es gerade der aus den Verunglimpfungen erwachsene Schmerz gewesen war, der ihn zur Durchführung des Experiments getrieben hatte. Er sah den Splitter im Auge seiner Konkurrenten, aber den Balken in seinen Augen sah er nicht.

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